Die Netzhaut
es ziemlich anstrengend, meinen Alltag in den Griff zu kriegen«, fügte er hinzu. »Es fällt schwer, an etwas anderes als Mailin zu denken.«
Sie glaubte ihm. Er fragte sie, wie es zu Hause in Lørenskog lief, und es machte ihr nichts aus, vom Zustand ihrer Mutter oder von Tages gutgemeinten, aber hilflosen Versuchen zu sprechen, sie zu trösten. Doch Dahlstrøm wollte auch wissen, wie es ihr selbst ging.
»Was hältst du von der Talkshow, an der Mailin teilnehmen wollte?«, wich sie aus.
Er strich sich mit einem Finger über seinen schiefen Nasenrücken. Wahrscheinlich hatte er sich einmal die Nase gebrochen. Als sie damals im Amsterdamer Restaurant Vermeer zusammensaßen, hatte er damit gescherzt, sich in jungen Jahren als Boxer versucht zu haben.
»Ich berate Mailin bei der Behandlung ihrer Patienten«, entgegnete er. »Mit ihren anderen Aktivitäten habe ich nichts zu tun. Doch wenn sie mich gefragt hätte, hätte ich ihr abgeraten, sich in irgendeiner Form mit Berger einzulassen.«
»Du scheinst ja auch zu den vielen Menschen zu gehören, die Berger nicht ausstehen können.«
Dahlstrøm schien einen Moment nachzudenken.
»Wenn jemand nur skrupellos genug ist und ein Minimum an Talent besitzt, kann er im Fernsehen heute eine große Karriere machen«, stellte er fest.
»Es schadet doch nicht, ein bisschen über sich selbst zu lachen.«
»Ganz im Gegenteil, Liss. Das ist sogar sehr gesund. Aber für uns, die wir mit den Opfern dieses Zynismus arbeiten, sieht die Welt ganz anders aus.«
Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Wir machen uns doch heute über alles lustig. Man kann überhaupt kein Tabu mehr brechen, ganz gleichgültig, wie man sich über Sex, Tod oder Gott äußert. Hauptsache, man tut es mit Ironie. Aber das eigentliche Tabu unserer Tage ist der Ernst. Das Tabu ist vom Inhalt auf die Form übergegangen.«
Plötzlich sagte Lisa:
»Mailin muss irgendwas über ihn herausgefunden haben. Irgendwas, das Berger getan hat. Sie wollte es an diesem Abend im Fernsehen enthüllen. Deswegen wollte sie ihn unmittelbar vor der Sendung noch treffen, um ihm die Chance zu geben, die Talkshow kurzfristig abzublasen.«
»Wer hat das gesagt?«
»Viljam, ihr Freund.«
Aber ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann, hätte sie fast hinzugefügt.
Dahlstrøm richtete sich auf und betrachtete sie.
»Ist die Polizei darüber informiert?«
»Viljam hat versucht, es ihnen zu sagen. Doch sie schienen nicht sonderlich interessiert zu sein. Das meinte er jedenfalls.«
»Sie müssen sicherlich eine ganze Reihe von Hypothesen in Betracht ziehen.«
»Ich habe das Gefühl, die legen einfach die Hände in den Schoß.«
»Das tun sie bestimmt nicht«, entgegnete Dahlstrøm. »Aber ich kenne jemand auf dem Polizeipräsidium, den ich mal anrufen werde.«
Liss bereitete sich auf das Ende ihres Gesprächs vor. Sie spürte, wie gut es ihr tat, mit diesem Mann zu reden, den Mailin bewunderte und dem sie vertraute. Wenn sie noch länger sitzen blieb, würde sie ihm womöglich Dinge anvertrauen, die er eigentlich nicht erfahren sollte.
»Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand Mailin etwas antut.«
Dahlstrøm nickte.
»Mailin ist das, was ich als durch und durch guten Menschen bezeichnen würde. Zugleich ist sie mutig. Damit macht sie sich auch Feinde. Außerdem hat sie lange auf einem Gebiet gearbeitet, das gewissermaßen vermintes Gelände ist.«
Er runzelte die Stirn und blickte aus dem Fenster.
»Mir ist klar, dass du mir nichts über Mailins Patienten erzählen kannst«, sagte Liss. »Aber ich weiß, dass sie an ihrer Habilitationsschrift arbeitet, in der es auch um Inzest und solche Dinge geht. Das ist wohl kein Geheimnis.«
Er zögerte ein wenig, ehe er antwortete:
»Natürlich nicht. Sie soll ja veröffentlicht werden … Sie beschäftigt sich mit einer Gruppe von jungen Männern, die früher schweren Übergriffen ausgesetzt waren.«
»Kann einer von ihnen Mailin etwas angetan haben?«
Dahlstrøm hob seine Kaffeetasse, überlegte es sich anders und stellte sie wieder hin.
»Als Mailin vor einigen Jahren mit dieser Studie begann, hat sie sich sieben Männer ausgesucht, deren Leben sie über einen längeren Zeitraum verfolgen wollte. Sie war sehr darauf bedacht, Opfer von Missbrauch und sexueller Gewalt zu finden, die später nicht selbst gewalttätig geworden waren. Denn das ist es, was sie vor allem erforschen will: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein,
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