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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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damit ein Teufelskreis von sexueller Gewalt und tiefen Verletzungen durchbrochen werden kann? Wie kommt es, dass manche Menschen in der Lage sind, die ihnen zugefügten Demütigungen zu ertragen, ohne andere Unschuldige dafür leiden zu lassen?«
    Liss dachte darüber nach.
    »Aber ihr könnt doch nicht vollkommen sicher sein, dass diese Männer, mit denen sich Mailin beschäftigt, nicht irgendwann gewalttätig wurden«, wandte sie ein. »Auch wenn sie dies leugnen, wenn sie gefragt werden.«
    »Das ist richtig. Mailin muss ihnen in gewisser Weise Glauben schenken und sich darüber hinaus darauf verlassen, dass sie nicht vorbestraft sind. Aber jetzt haben wir wirklich die Grenze dessen erreicht, worüber ich mit dir reden kann, Liss. Ich hoffe, du verstehst das.«
    »Aber du würdest sicher die Polizei verständigen, falls Mailin von einem ihrer Patienten bedroht würde?«
    »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich alles tun würde, um sie zu schützen …«
    »Aber sie ist schon seit sechs Tagen verschwunden!«, protestierte Liss. »Wir können doch nicht einfach nur untätig warten.«
    »Das tue ich auch nicht«, versicherte er. »Ich habe bereits mit der Polizei gesprochen und werde es wieder tun.«
    »Das muss ich auch …«, murmelte sie.
    Dahlstrøm schaute sie fragend an. Jetzt kannst du es sagen, durchfuhr es sie. Du hast einen Menschen getötet, Liss Bjerke.
    »Ich bin ihre Schwester«, fügte sie rasch hinzu. »Niemand kennt sie besser als ich.«
    Dahlstrøms Blick ruhte immer noch auf ihr. Ihm schien nichts zu entgehen. Er hätte genau gewusst, was sie tun sollte … Sie musste sofort von diesem Stuhl aufstehen, bevor sie zu erzählen begann und nicht mehr aufhören konnte.

8
    A m Abend nahm sie den Bus nach Lørenskog. Wusste nicht, wohin sie sonst hätte fahren sollen. Tage hatte ihr einen Hausschlüssel mitgegeben. Er hatte nichts gesagt, sondern ihr ihn einfach in die Hand gedrückt, als sie gestern das Haus verließ.
    Sie schloss die Tür auf.
    »Tage, bist du’s?«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer. Liss ging vorsichtig zu ihr hinein. Die Mutter saß auf dem Sofa, an exakt derselben Stelle, an der sie auch vor anderthalb Tagen gesessen hatte. Aber sie hatte das Licht eingeschaltet, vor ihr auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitungen, und in der Hand hielt sie ein Buch.
    »Bist du hungrig, Liss? Soll ich etwas für dich aufwärmen?«
    Liss war nicht hungrig. Sie hatte einen halben Döner gegessen, bevor sie zum Bus ging. Nun wollte sie nur noch hinauf ins Zimmer und unter die Decke kriechen.
    Sie setzte sich auf einen Stuhl am Ende des Tisches.
    »Es tut mir leid«, sagte die Mutter.
    »Was …?«
    Sie legte das Buch weg.
    »Ich bin froh, dass du da bist, Liss!«
    Liss nickte rasch.
    »Aber im Moment ist es unmöglich, sich richtig über etwas zu freuen«, fügte sie hinzu.
    »Ich weiß.«
    »Dabei möchte ich dich so vieles fragen. Über Amsterdam und was du alles so machst.«
    Liss stand auf, ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und kam mit Tassen, Gläsern und einer Wasserkaraffe zurück.
    »Hast du neue Kleider? Sind die nicht von Mailin?«
    »Ich musste mir was von ihr ausleihen. Bin nicht dazu gekommen, etwas von zu Hause mitzunehmen.«
    Die Mutter hob die Hand und berührte die flaschengrüne Kaschmirjacke. Vielleicht war es der Anflug eines Lächelns, das sich auf ihrem Gesicht abzeichnete.
    »Wie lange kannst du bleiben?«, fragte sie.
    Liss schenkte ihnen Wasser ein. Es war eiskalt. Sie leerte ihr Glas in einem Zug. Der Schmerz schnitt durch ihre Kehle und fuhr in ihre Schulter.
    »Ich werde erst wieder abreisen, wenn wir Bescheid wissen.«
    Wenn Mailin gefunden wurde, fügte sie im Stillen hinzu.
    Um die Stille zu vermeiden, fragte sie: »Was liest du da?«
    Die Mutter nahm das Buch zur Hand.
    »Die Kartause von Parma.«
    Sie hielt das Buch in die Höhe, als wollte sie Liss beweisen, dass es tatsächlich ein Buch mit diesem Titel gab.
    »Stendhal«, erklärte sie. »Ich lese immer Stendhal, wenn ich einen Ort brauche, an dem ich allein sein kann.«
     
    Liss setzte sich in Tages Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Er hatte ihr das Passwort verraten, um sich ins Internet einzuloggen.
    Sie öffnete Google und tippte »fahrlässige Tötung« und »Strafrahmen« ein. Löschte es und schrieb stattdessen »Death by water«, die Wörter, die Mailin auf das Post-it geschrieben hatte, das in ihrem Behandlungszimmer an der Korktafel hing. Erhielt 46 700

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