Die Netzhaut
Augen?«, flüsterte Liss.
Die Augen der Schwester waren voller Blut, wund und blind starrten sie ins Licht, ohne zu zwinkern. »Was machst du da? Filmst du mich?«
Ein Schwenk durch den Raum. Ein paar Kisten stapelten sich an der Wand, ein Autoreifen lag neben zwei Tonnen. Danach richtete sich die Kamera wieder auf Mailins Gesicht.
»Wahr…«
Sie sagte noch mehr, war aber nicht mehr zu verstehen. Dann rief sie: »Liss!«
Danach ein anderes Bild. Der Ausschnitt eines Gebäudes.
Als ich an jenem Abend am dunklen Strand saß und der Brandung lauschte, war ich drauf und dran, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Hinauszuwaten und in der Dunkelheit zu verschwinden, mich umschließen und in die Tiefe ziehen zu lassen. Dorthin, wo der tote Phönizier und alle anderen ertrunkenen Körper sich aufgelöst hatten.
Doch in diesem Moment tauchte eine Gestalt an der Steintreppe auf. Ich ahnte, dass es Jo war. Er ging an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Ich sah, dass er sich auszog. Der schmächtige, weiße Jungenkörper im kalten Mondlicht. Ich wartete, bis er ganz nackt war, ehe ich aufstand und gemächlich zu ihm hinüberschlenderte. Er starrte aufs Meer hinaus und nahm mich immer noch nicht wahr. In seinem einen Schuh steckte ein Zettel. Darauf stand so etwas wie
Vergesst mich.
Geschrieben mit großen, ungelenken Buchstaben. Er wollte sich ertränken. Ich habe ihn gerettet, Liss. Er hat mich gerettet. In jener Nacht am Strand, während die Wellen schäumend über unsere Füße schwappten, gaben wir uns ein stummes Versprechen.
1
Mittwoch, 24. Dezember
J ennifer Plåterud stapfte über den Hof. Der Boden war von einer fünfzehn bis zwanzig Zentimeter dicken frischen Schneeschicht überzogen. Es war Heiligabend gegen 14 Uhr und immer noch nicht geräumt worden. Eigentlich war Trym, ihr ältester Sohn, mit dem Schneeschaufeln dran. Bevor sie zum Einkaufen fuhr, war sie extra noch in seinem Zimmer gewesen und hatte ihn daran erinnert. Jetzt überlegte sie in aller Eile, wie sie ihn am besten dazu bringen konnte, ohne dass die Weihnachtsstimmung darunter litt. Trym war ein phlegmatischer Typ. Diese Veranlagung hatte er nicht von ihr, ganz im Gegenteil, sondern von seinem Vater, allerdings noch ausgeprägter. Wahrscheinlich verstärkt sich so etwas von einer Generation zur nächsten, dachte sie schaudernd. Dass sich das Phlegma in der Familie ihres Mannes über Jahrhunderte hatte entwickeln und entfalten können, war ihr längst klar geworden. Hinzu kam ein melancholischer Zug. Als Gerichtsmedizinerin stellte Jennifer stets höchste wissenschaftliche Ansprüche und hatte, sofern es um Genetik oder Neurobiologie ging, für oberflächliche Betrachtungen und voreilige Schlüsse nur Verachtung übrig. In psychologischen Dingen war sie hingegen weitaus nachsichtiger und hing seltsamerweise der uralten Lehre von den vier Körpersäften an, deren Verteilung darüber entschied, welche der vier Charaktereigenschaften dominierte. Sie selbst war ausgeprägt sanguinisch, doch auch, wie sie sich eingestehen musste, ein wenig cholerisch veranlagt. Dass sie einst einem Mann mit diametral entgegengesetzten Eigenschaften – einem durch und durch soliden und wortkargen Teddybären von der anderen Seite des Planeten – verfallen und ihm in sein viel zu kaltes, winterdunkles Heimatland gefolgt war, zeigte vermutlich nur, wie sehr Gegensätze sich anzogen. Dies war nämlich eine andere Theorie, der sie hin und wieder anhing, obgleich auch diese in menschlich-psychologischer Hinsicht keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielt.
Sie stellte die Einkaufstüten im Gang ab und zog ihre Stiefeletten aus, die aus Antilopenleder waren und hohe, dünne Absätze hatten. Dann rief sie nach ihrem ältesten Sohn. Sie bekam keine Antwort, was auch nicht verwunderlich war, weil der Basslautsprecher in seinem Zimmer so sehr dröhnte, dass die Decke über ihr vibrierte. Sie wollte gerade die Treppe hinauflaufen, um die fälligen Sanktionen zu verhängen, als ihr Handy sich meldete. Sie zog es aus der Jackentasche.
»Flatland hier.«
Sobald sie die ernste Stimme hörte, wusste Jennifer, dass sie sich erneut auf den Weg machen musste. Am Institut hatten sie darüber diskutiert, wer über die Weihnachtstage Bereitschaftsdienst haben würde, und Jennifer hatte sich freiwillig zur Verfügung gestellt. An einem Tag wie diesem war es normalerweise ziemlich ruhig. Es gab allenfalls ein paar Anfragen, die sich am Telefon klären ließen. Doch
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