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Die neue arabische Welt

Die neue arabische Welt

Titel: Die neue arabische Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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dschihadistische Beteiligung ab und entziehen deren Freund-Feind-Denken den Boden. Was Sawahiri zum Umsturz in Ägypten zu sagen hatte, war nicht ernstzunehmen: Revolutionäre und al-Qaida kämpften gegen dieselben Gegner. Wenn aber die Ereignisse in Tunesien und Ägypten eines gezeigt haben, dann dies: Das Mobilisierungspotential al-Qaidas ist minimal, eine Massenbewegung ist der militante Dschihadismus nie geworden.
    Anders als bei den militanten Palästinensern kann al-Qaida nicht darauf hoffen, dass ihre Ziele auf Verständnis stoßen. Der »heilige Krieg« gedeiht im Verborgenen, bleibt tödlich, aber er ist keine politische Macht. Das Terrornetzwerk könnte von den Umstürzen in der arabischen Welt dennoch profitieren, in unübersichtlichen Verhältnissen kann es besser agieren. Aber der Anspruch, selbst den Sturz der Regime herbeizuführen, ist vorerst erledigt.

Bruder Führer
    Libyens Staatschef Gaddafi war einst
ein Volksheld, der sich auf mächtige Stämme
stützen konnte. Er verordnete seinem Land
ein bizarres politisches System, war zeitweise
international geächtet. Doch erst die Gewalt
gegen sein Volk brach seine Autorität.
     
    Von Lutz Jäkel
     
     
    Als die kleineren Stämme sich lossagten, war das ärgerlich, aber noch nicht wirklich beunruhigend. Als Teile des Stammes Warfalla ihre Loyalität aufkündigten, wurde er langsam nervös. Als aber Scheich Faradsch al-Suwai, der Führer des mächtigen Stammes Suwaja aus dem ölreichen Norden, drohte, die Ölhähne und die Zugänge zu den Erdöl-Verladehäfen zu blockieren, falls die Angriffe auf wehrlose Demonstranten nicht aufhörten, da musste er wissen, dass es ernst wird.
    Sein Volk erhob sich und mit ihm die Stämme, die seit über 40 Jahren, seit Muammar al-Gaddafi mit ein paar getreuen Offizieren den verhassten König verjagt hatte, von dem System in Libyen profitiert hatten. Was war geschehen, dass sie plötzlich die Fronten wechselten? Dass von ihm der Rücktritt verlangt wurde?
    Das Volk regierte sich doch selbst im System Gaddafi, er, ihr »Bruder Führer«, gab seinen Brüdern und Schwestern lediglich Ratschläge, wenn sie vom Pfad der absoluten Volksherrschaft abkamen. Man konnte diese Ratschläge als Befehle verstehen, aber das sah er anders.

    Es gebe keine Demonstrationen auf den Straßen, behauptete Gaddafi noch Ende Februar 2011 gegenüber der amerikanischen Journalistin Christiane Amanpour: »Haben Sie Demonstrationen gesehen? Mein Volk liebt mich. Es wird für mich sterben, um mich zu beschützen!« Folglich konnte für Gaddafi die Gefahr nur von außen kommen. »Al-Qaida! Das ist al-Qaida! Al-Qaida!«, schmetterte er Amanpour im Interview entgegen. Da hatte er schon die Bomber gegen seine Brüder und Schwestern geschickt.
    Es war der grausam entschlossene Versuch eines Autokraten, zu retten, was längst verloren war: den Rückhalt seines Volkes, den er zu Beginn seiner Herrschaft tatsächlich einmal hatte. Gaddafi hatte schließlich das Land von Grund auf verändert, es zu Unabhängigkeit und auf den Weg einer vermeintlich egalitär-sozialistischen Gesellschaft, aber auch in die internationale Isolation geführt. Das Nachrichten-Magazin »Newsweek« bezeichnete den Beförderer des Staatsterrorismus einst als den »gefährlichsten Mann der Welt«, der damalige US-Präsident Ronald Reagan nannte ihn »den tollwütigen Hund des Nahen Ostens«.
    Sich selbst sah Gaddafi stets als »einen armen, herumschweifenden Beduinen«. Muammar, »dem ein langes Leben gegeben ist«, was sein Name übersetzt bedeutet, wurde 1942 südlich der Stadt Sirte geboren, in den kleinen und unbedeutenden Stamm der Gadadifa. Er kam erst mit neun Jahren in die Schule, interessierte sich aber früh für Geschichte. Dort hörte er auch von Omar al-Muchtar, dem »Libyschen Löwen«, dem Partisan im Kampf gegen die Italiener, bis heute wird er in Libyen verehrt.
    Als Ende des 19. Jahrhunderts die europäischen Kolonialmächte Afrika aufteilten, interessierten sich die Italiener für ein Stück Land im Norden, das sie ab 1911 in blutigen Kämpfen eroberten. Sie fassten 1934 das Besatzungsgebiet
aus den Regionen Tripolitanien, Cyrenaika und Fessan zu einer staatlichen Einheit zusammen, nannten sie »Libia italiana« und machten Tripolis zur Hauptstadt. Für die Italiener war Libyen ein Vorgarten Roms, den sie zwischen 1911 und 1943 ausbeuteten. Benito Mussolini sprach von »der großen Büchse Sand«. 20 Jahre lang kämpfte Omar al-Muchtar mit seiner Guerilla gegen

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