Die neue arabische Welt
die italienische Besatzungsmacht. Mussolini schickte seinen brutalsten General, um den Aufstand niederzuschlagen. Tausende Libyer wurden in Konzentrationslager deportiert oder in die Wüste getrieben, wo sie elendig verendeten; Muchtar wurde 1931 in Suluk bei Bengasi öffentlich hingerichtet.
Über 100 000 Libyer sollen getötet worden sein, der Großvater Gaddafis war einer von ihnen, sein Vater wurde verwundet. Das prägte den jungen Gaddafi. Als er zehn Jahre alt war, putschten im Nachbarland Ägypten die »Freien Offiziere« unter Beteiligung von Gamal Abd al-Nasser. Ihre Rufe nach Sozialismus, Freiheit und Unabhängigkeit, vor allem aber ihr Abscheu gegen jede Form der Fremdherrschaft beeindruckten den Libyer noch mehr, Nasser wurde Gaddafis Idol.
Gaddafi ging nun in Tripolis zur Schule, wo ihn die Kinder der städtischen Eliten wegen seiner beduinischen Herkunft hänselten. Er folgte seinem Idol Nasser, absolvierte eine Ausbildung an der Militärakademie und putschte, gerade mal 27 Jahre alt, am 1. September 1969 mit weiteren Offizieren gegen Idris al-Sanussi, der mit der Unabhängigkeit 1951 König geworden war.
Als Gaddafis Offiziere die Macht übernahmen, floss in Libyen schon seit ein paar Jahren Erdöl, doch das Land war immer noch eines der ärmsten Länder der Erde, die Gesellschaft rückständig. Die knapp eine Million Libyer lebten von Ackerbau und Viehzucht. Eines der wichtigsten
Exportgüter zu dieser Zeit war Metall der aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zurückgelassenen oder zerstörten Kriegsgeräte. König Idris I. hatte vor allem seine eigenen Taschen und die seiner Entourage gefüllt. Um seine Monarchie zu stabilisieren, war er sogar ein Bündnis mit Amerikanern und Briten eingegangen, denen er Militärbasen und die Förderung des Erdöls überließ. Der Putsch Gaddafis wurde von der Bevölkerung deshalb bejubelt.
Libyen ist ein Staat verschiedener Völker und Stämme, in dem sich erst aus dem Widerstand gegen die italienische Besetzung ein libyscher Nationalismus entwickelt hatte. Die Bevölkerung war bereits in der Antike unterschiedlichen kulturellen Einflüssen ausgesetzt, die zur Entwicklung verschiedener Mentalitäten und Alltagskulturen beitrugen. Tripolitanien war phönizisch-römisch geprägt, ist heute eher konservativ, aber auch säkular orientiert; die Cyrenaika war griechisch beeinflusst, hat heute ein stärkeres islamisches Profil; der Fessan im Südwesten des Landes ist beduinisch-afrikanisch dominiert. Noch heute fühlen sich Tripolitaner den Tunesiern näher als ihren Landsleuten im Fessan.
Auch zwischen städtischer Kultur an der Küste und dem Beduinentum im Landesinnern bestehen Gegensätze, die das Zusammenleben der Libyer noch immer beeinflussen. Zudem öffnete Gaddafi aus ideologischen Gründen im Jahr 2000 die Grenzen im Süden – nachdem der Panarabismus gescheitert war, versuchte er sich im Panafrikanismus. Hunderttausende schwarzafrikanische Gastarbeiter und Flüchtlinge, in erster Linie aus dem Tschad, aus Mali, Niger, Ghana und Nigeria, strömten daraufhin ins Land, seither gab es immer wieder Spannungen bis hin zu rassistischen Übergriffen. Aber Gaddafi verkündete: »Wir sind alle Libyer.«
Jeder Libyer ist an seinen Stamm gebunden, Herkunft und Abstammung bestimmen bis heute den sozialen Status. Etwa 140 verschiedene Stämme gibt es in Libyen, von denen aber nur etwa zwei Dutzend politisch bedeutend sind. Gaddafi baute deshalb seine Herrschaft auch auf die Stämme auf. Erstaunlicherweise gelang es ihm, einem Mitglied des recht unbedeutenden kleinen Stammes der Gadadifa, mit zwei der zahlenmäßig größten Stämme eine Allianz einzugehen. »Nach der Machtübernahme besetzte Gaddafis Stamm zusammen mit den verbündeten Warfalla und Magarha alle zentralen Posten bei Streitkräften, Polizei und Geheimdienst. So sicherten sie ihre Herrschaft ab«, erklärt Hanspeter Mattes, Nordafrika-Spezialist am German Institute of Global and Area Studies in Hamburg. Gaddafi verschaffte ihnen Privilegien und Posten, verteilte unter ihnen die üppigen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft.
Die Anführer agieren in ihren Gebieten weitgehend unabhängig von Tripolis. Die Loyalität des einzelnen Libyers gilt in erster Linie dem eigenen Stamm, nicht den übergeordneten Interessen eines staatlichen Gemeinwesens. Das zeigte sich auch im gegenwärtigen libyschen Aufstand. »Für einen Libyer ist es unvorstellbar, die Waffe gegen ein Stammesmitglied zu richten«, sagt Mattes.
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