Die neue arabische Welt
August 1998 verkündet: »Amerikaner – Zivilisten oder Militärs – zu töten ist eine Pflicht für jeden Muslim. Diese Pflicht kann in jedem Land erfüllt werden.«
Diese Erklärung markierte die Geburtsstunde des transnationalen islamistischen Terrorismus, als dessen »Prototyp« der Politologe Ulrich Schneckener Bin Ladens Truppe sieht. PFLP- und PLO-Kommandos mögen mit ähnlichen Methoden operiert, Hamas und Hisbollah ihre Taten mit
vergleichbaren religiösen Phrasen legitimiert haben. Aber ihnen ging es letztlich stets um nationale Ziele in ihrer Heimat des Nahen Ostens. Al-Qaida hingegen verband als erste militante islamistische Gruppe eine internationale Agenda – den Kampf gegen die Unterstützer Israels und der verhassten arabischen Regime – mit weltweiter Organisation. Bin Ladens Terrorismus, so Schneckener, ist »heimatlos, ein moderner Nomade«.
Heimatlos, aber nicht ziellos: Al-Qaida ist das Produkt eines radikal neuen Denkens. Jahrzehntelang hatten Dschihadisten sich quer durch die arabische Welt an ihren Regimen abgearbeitet, hatten versucht, Präsidenten und Könige zu stürzen, um die »gottlosen« Regime durch islamische Regierungen zu ersetzen – erfolglos. Tod, Folter oder Gefängnis waren fast immer die Folge. Bin Laden und seine Kampfgefährten kamen zu dem Schluss: Wenn die Tyrannen nicht gestürzt werden konnten, dann deshalb, weil die USA und Israel sie stützten. Also müsse der Kampf gegen diese Verbündeten und in deren Ländern geführt werden.
Kämpfer für diesen Feldzug konnten sie in Afghanistan beim Krieg gegen die sowjetischen Invasoren rekrutieren. Dort stand ihnen nach der Machtübernahme der Taliban eine sichere Basis zur Verfügung. Bin Laden und der aus Ägypten zu ihm gestoßene Kinderarzt Aiman al-Sawahiri, Anführer des »Islamischen Dschihad«, beraubten sich allerdings dieser Basis, als in der Folge des Terrorangriffs vom 11. September 2001 die Taliban gestürzt wurden. Bin Laden hielt sich in den letzten Jahren im pakistanischen Abbottabad versteckt und gab mit Hilfe von Tonbotschaften nach wie vor die ideologische Leitlinie vor.
Al-Qaida hat sich trotz des Verlustes der Basis am Hindukusch als sehr widerstandsfähig erwiesen. Aus Afghanistan
gingen viele Kader zurück in ihre Heimatländer, um den Kampf dort fortzusetzen. In Saudi-Arabien, im Jemen, in Nordafrika entstanden Qaida-Filialen. Im Irak gründete der Jordanier Abu Musab al-Sarkawi eine Qaida-Dependance, die nicht nur tausendfachen Tod über die Bevölkerung brachte, sondern das fragile Land an den Rand eines Bürgerkriegs zwischen Sunniten und Schiiten bombte.
Die Liste der blutigen Anschläge, die nach dem 11. September im Namen al-Qaidas oder mit Hilfe von Freiwilligen oder verbündeten Organisationen verübt wurden, ist lang. Sie reicht von Amman über Bali und Bagdad nach Djerba in Tunesien, London und Madrid, auf den ägyptischen Sinai, nach Pakistan und Mumbai. Der Qaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel mit Zentrum im Jemen wäre es an Weihnachten 2009 um ein Haar gelungen, einen US-Passagierjet im Anflug auf Detroit zu sprengen – mit Hilfe eines nigerianischen Rekruten. Bei vielen Anschlägen ist kaum noch festzustellen, ob es reine Qaida-Kommandos waren. Sicher ist nur: Ohne Inspiration durch Bin Laden & Co. wären sie nicht zustande gekommen. Das Internet ist für die Kader des Terrornetzes zudem ein effektives Instrument: Mit seiner Hilfe verbreiten sie Propaganda und Anleitungen zum Bombenbau, akquirieren Geld und tauschen sich untereinander aus.
Mehrere Qaida-Führer wurden durch CIA-Drohnen gezielt getötet, bisher ohne größere Wirkung auf die Strukturen. Ob die spektakuläre Tötung Osama Bin Ladens der entscheidende Schlag gegen das Netz war, steht dahin. Ideologisch allerdings verliert al-Qaida an Zusammenhalt; Widersprüche schmälern ihre Glaubwürdigkeit. Wieso tötet al-Qaida viel mehr Muslime als Nichtmuslime? Dass al-Qaida keine Erklärung dafür hat, führte zur Entfremdung vieler radikaler Islamisten.
Osama Bin Laden wiederum hatte zuletzt über die Folgen der Globalisierung als Auswuchs des internationalen Kapitalismus gesprochen, sogar über den Klimawandel. Hatte er neue Bündnispartner im Blick? Unter seinen traditionellen Anhängern säte er mit der ideologischen Öffnung Verunsicherung, ob er neue gewinnen konnte, ist fraglich.
Ein regelrechtes Fiasko für al-Qaida bedeuten indes die jetzigen Revolutionen in der arabischen Welt. Sie laufen ohne
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