Die neue arabische Welt
öffentliche Leben kam vielerorts nahezu zum Erliegen.
Das System florierte zunächst trotzdem. Denn die politischen und wirtschaftlichen Reformen, die Gaddafi in Gang setzte, bedeuteten für die Stammesgruppen und sozialen Schichten, die während der Sanussi-Monarchie verarmt waren, bessere Lebensverhältnisse. Doch langfristig gab es gewaltige Probleme. Der ökonomische Kurs führte nicht in ein egalitäres Wirtschaftsparadies, sondern in ein organisatorisches Chaos. Die Menschen verloren zunehmend das Vertrauen in die Regierung und zogen sich immer weiter in die Privatsphäre und die verlässlicheren Stammesbindungen zurück.
Mit schätzungsweise sechs bis acht Milliarden Dollar unterstützte Gaddafi terroristische Organisationen auf der ganzen Welt: die Roten Brigaden in Italien, diverse palästinensische Splittergruppen (wie Schwarzer September), die Farc in Kolumbien, die IRA in Irland. Rücksichtslos verfolgte er Regimegegner auch im Ausland, gab das Bombenattentat auf die Berliner Discothek La Belle 1986 in Auftrag, ließ 1988 einen PanAm-Jumbo über dem schottischen Lockerbie abstürzen. Internationale Sanktionen waren die Folge.
Aufgrund einer Wirtschaftskrise seit Mitte der achtziger und später in den neunziger Jahren, bei der der Ölpreis rapide sank, begann das ökonomische und damit das politische System Libyens zu wackeln. Libyer mussten plötzlich in Schlangen nach Fleisch und Brot anstehen, die Arbeitslosigkeit kletterte auf rund 30 Prozent in einem Land, das mit seinem Erdöl- und Erdgasvorkommen zu den reichsten Ländern Afrikas zählt.
Gaddafi erkannte, dass er außenpolitisch handeln musste, um an der Macht zu bleiben. 1999 lieferte er die mutmaßlichen Attentäter von Lockerbie aus und entschädigte die Opfer libyscher Anschläge durch Zahlungen in Millionenhöhe; Uno und EU lockerten nach und nach die Sanktionen. Auch sollen Gaddafis Geheimdienste nach dem 11. September 2001 westlichen Diensten wichtige Informationen über das Terrornetzwerk al-Qaida geliefert haben – der ehemalige Terroristen-Förderer beteiligte sich nun am Kampf gegen den Terror. 2003 erklärte Gaddafi sogar seinen Verzicht auf Massenvernichtungswaffen. Die Sanktionen gegen Libyen wurden schließlich auch von den USA aufgehoben. Als Wirtschaftspartner war Gaddafi aufgrund der reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen schon immer sehr attraktiv, jetzt durfte man wieder ganz offiziell mit ihm Geschäfte machen. Er war zurück in der Staatengemeinschaft. Und nun rebellierte sein Volk.
Dabei hatte Gaddafi in seinem Grünen Buch selbst vorhergesagt: »Wenn eine Klasse, eine Partei, ein Stamm oder eine Sekte eine Gesellschaft beherrscht, wird das ganze System zur Diktatur.« Gaddafi entwarf 1974 daher die »Dritte Universaltheorie«, die »das Demokratieproblem in der Welt endgültig löst«, es fehle nur noch an einem: »Alles, was die Massen jetzt tun müssen, ist, für die Beendigung aller Formen diktatorischer Herrschaft in der heutigen Welt zu kämpfen.« Seine Massen nahmen ihn beim Wort.
Ende August 2011 drangen die aufständischen Kämpfer in die Hauptstadt Tripolis vor, die Tage des Muammar al-Gaddafi waren gezählt.
TEIL V
DER AUFBRUCH
»JETZT IST ES WIEDER UNSER LAND«
SPIEGEL-Gespräch mit dem ägyptischen
Schriftsteller Alaa al-Aswani über die Revolution
in seiner Heimat, den Einfluss der Muslimbrüder
und die Mühen des Wandels
Das Gespräch führten Annette Großbongardt
und Volkhard Windfuhr im Frühjahr 2011 in Kairo.
SPIEGEL: Am Flughafen begrüßte uns ein Ägypter mit dem Satz: »Willkommen im neuen Kairo«. Ist es neu?
ASWANI: Ja, die Revolution hat die Menschen verändert. Sie empfinden eine neue Würde. Alle, die auf die Straße gingen, um zu demonstrieren, taten das in dem Bewusstsein, vielleicht nie mehr nach Hause zu kommen. Sie waren bereit zu sterben. Das ist die Bedeutung von Revolution: lieber zu sterben, als weiter ohne Würde zu leben.
SPIEGEL: Überall in der Stadt sieht man nun die ägyptische Flagge, auch an Ihrem Balkon hier hängt eine. Ist das Ausdruck dieses Stolzes?
ASWANI: Ja, absolut. Die Flagge drückt aus: Jetzt ist es wieder unser Land, wir haben es uns zurückgeholt. Nur ein Beispiel: Nach der Revolution strömten die jungen Menschen aus und machten die Stadt sauber, so was habe ich noch nie erlebt. Auch meine Töchter und ihre Klasse haben mitgemacht, drei Tage lang haben sie Abfall gesammelt. »Papa, das ist unsere Pflicht«, erklärten sie mir.
SPIEGEL: Die
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