Die neue arabische Welt
»Als Gaddafi begann, Demonstrationen im Osten gewaltsam niederzuschlagen, konnten ihm Angehörige dieser Stämme in der eigenen Truppe nicht länger die Treue halten.«
Aufständische Libyer feiern im März 2011 einen Erfolg auf einem zerstörten Panzer bei Bengasi.
Aber auch der Gedanke an eine »Nachkriegsordnung« spielte bereits eine Rolle. »Stämme, Staatseliten und oppositionelle Gruppen positionieren sich unterdessen schon für die Zeit nach Gaddafi«, ist Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin überzeugt.
Dabei waren die Ergebnisse des sozioökonomischen Wandels, den Gaddafi einst auslöste, durchaus beachtlich.
Briten, Amerikaner und Italiener mussten das Land verlassen, ausländische Banken und Unternehmen wurden verstaatlicht, ein Großteil der Ölfirmen wurde unter libysche Kontrolle gebracht. Mit den Ölgeldern ließ Gaddafi – von Hunderttausenden ausländischen Gastarbeitern und Technikern – Fabriken, Schulen, Krankenhäuser und Straßen bauen sowie riesige Bewässerungsanlagen in die Wüste setzen. Löhne wurden angehoben, Nahrungsmittel subventioniert, Mieten abgeschafft, Ausbildung und medizinische Versorgung kostenlos angeboten, und Beduinen bekamen Land.
Die Libyer ließen sich berieseln. »Ein Volk von Frührentnern schaute zu, was die neue Führung sich an Geschenken so einfallen ließ«, schrieb der SPIEGEL 1986. Für diese Annehmlichkeiten waren sogar so stolze Beduinenstämme wie die Tuareg bereit, einen großen Teil ihrer Unabhängigkeit zugunsten des arabisch dominierten Staates zu opfern. So konnte Gaddafi die Tuareg als »seine Araber des Südens« bezeichnen, obwohl sie ethnisch keine Araber, sondern Berber sind, also zur Urbevölkerung Libyens gehören. Araber kamen erst im 7. Jahrhundert nach Nordafrika.
Dem Volk ging es folglich zunächst gut. Auch sollte jeder Bürger zu jeder Zeit an jedem politischen Entscheidungsprozess teilhaben können, das war Gaddafis propagierte Vision. 1974 legte er demonstrativ alle politischen Ämter nieder, ließ sich fortan Revolutionsführer oder Bruder Führer nennen, schaffte die Verfassung ab und legte von 1975 bis 1979 sein aus drei Teilen bestehendes Grünes Buch vor, das sämtliche Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens – weltweit – lösen und den Weg zur »absoluten Volksherrschaft« aufzeigen sollte.
Sein Libyen sollte das Musterland dafür sein. »Die wahre Demokratie besteht nur durch die Beteiligung des Volkes,
nicht durch die Aktivität seiner Repräsentanten«, schrieb Gaddafi. Also brauchte Libyen keine Repräsentanten. Und da »die Parlamente ein Mittel zur Ausplünderung und Aneignung der Volksmacht sind«, wie er meinte, seien auch Parlamente überflüssig. Und Wahlen? »Die Menschen stehen schweigend in langen Reihen, um ihre Stimmzettel in die Wahlurnen zu werfen, genauso wie sie andere Papiere in den Abfalleimer werfen.« Also auch keine Wahlen. Und Parteien seien überflüssig, denn »die Partei ist nur ein Teil des Volkes, aber die Macht des Volkes ist unteilbar«.
Um den Volkswillen zu ermitteln, schuf Gaddafi mehrstufige Institutionen in seinem System der Dschamahirija, des »Volksmassenstaats«, wie er sein Konstrukt nannte. Auf Hunderten Basiskonferenzen, die mehrmals im Jahr über das gesamte Land verstreut abgehalten wurden, diskutierten die Teilnehmer über anstehende Probleme und wählten Vertreter in die lokalen Basiskomitees und für den Allgemeinen Volkskongress, das Quasi-Parlament.
So wurden Beschlüsse auf die jeweils nächste Ebene weitergereicht, bis daraus Gesetze und politische Strategien entstanden. So weit die schöne Theorie – doch über all den Delegierten, Kongressen, Sekretären wachte der Revolutionsführer selbst. Zwar war der jeweilige Generalsekretär des Volkskomitees Staatsoberhaupt, doch faktisch bestimmte Gaddafi weiter die Politik. Dafür hatte er den »Revolutionssektor« geschaffen, der jeder politischen Kontrolle entzogen war.
Auch wie die wirtschaftliche Ordnung auszusehen habe, legte Gaddafi im Grünen Buch fest. Damit jegliche Ungleichheit in der Gesellschaft aufgehoben werde, ließ er sämtliche Unternehmen in Volksbesitz überführen. Die Arbeiter erhielten nun keinen Lohn mehr, sondern anteilige Rechte an den Produkten, die ihr Unternehmen herstellte. »Partner
statt Lohnarbeiter« nannte Gaddafi diese »Produzentenrevolution«. Die Folge: Privathandel wurde unterdrückt, die Basarhändler mussten ihre Geschäfte schließen, das
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