Die neue arabische Welt
eingehen.
Driss El Yazami, 59, ehemaliger Generalsekretär der Internationalen Föderation der Menschenrechts-Ligen, hat daran mitgearbeitet. Im März ernannte ihn der König zum Vorsitzenden des aufgewerteten Nationalen Menschenrechts-Rats. Auf dessen Vorschlag hin korrigierte der Monarch umstrittene Urteile durch Begnadigungen. Mitte April kamen fast 100 Häftlinge frei, sogar einige, denen Terrorismus angelastet wurde. Fünf zum Tode Verurteilte und viele bislang als radikal eingeschätzte Islamisten erhielten mildere Strafen.
Einige der Freigelassenen wollen ihre Prozesse wieder aufrollen. Das geht alten Schergen des Innenministeriums wohl zu weit. Sie versuchen, den Wandel zu bremsen und Stärke zu zeigen. Deshalb ist El Yazami mit seinen Leuten allen Klagen wegen Polizei-Übergriffen sofort nachgegangen.
Es komme darauf an, das Recht auf freie Demonstrationen zu sichern und gleichzeitig die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Er glaubt an einen »radikalen Wandel, aber in Frieden«.
Die demografische Entwicklung kommt Marokko, nach Mauretanien das ärmste Maghreb-Land, zu Hilfe. Der Babyboom, so eine 2009 veröffentlichte Studie des Uno-Entwicklungsprogramms, klingt ab. Nach 2000 wuchs die Bevölkerung nur noch um durchschnittlich ein Prozent jährlich. Zwar sind noch 32 Prozent der jungen Menschen unter 24 Jahren arbeitslos. Etwa 170 000 Hochschulabsolventen, meist Philologen oder Gesellschaftswissenschaftler, haben keinen Job. 4300 arbeitslose Akademiker wurden im März in den Staatsdienst übernommen. Doch in einigen Branchen, wie in der boomenden Bauindustrie, gibt es Vakanzen. Jährlich werden etwa 10 000 Ingenieure gebraucht.
Nada El Kasmi, 38, ist eine der begehrten Spezialistinnen. Die schmale Schwarzhaarige in Jeans und Lederjacke, die in Rabat studiert hat, leitet als Ingenieurin eines der Lieblingsprojekte des Königs: die Hauptstadt völlig umzukrempeln. Seit 2007 ist die junge Mutter »mit Leidenschaft dabei«, die verschnarchte Verwaltungszentrale Rabat und das hässliche, proletarisch-islamistische Salé zu modernisieren. Es ist das größte Vorhaben in der Geschichte des Landes: Auf 60 Quadratkilometern, 15 Kilometer landeinwärts von der Mündung in den Atlantik, entsteht zu beiden Seiten des Bou Regreg ein Lebensraum der Zukunft.
Über eine von dem französischen Architekten Marc Mimram entworfene Brücke sollen Straßenbahnen jährlich bis zu 80 Millionen Fahrgäste umweltfreundlich zwischen den beiden Städten befördern. Der Fluss wird befahrbar
gemacht, sogar für Kreuzfahrtschiffe. Tunnelbau-Spezialisten aus Italien und der Schweiz projektierten zwei Röhren unter der acht Jahrhunderte alten Kasbah, die auf einem Felsen prunkt. Neben Hotels, Museen und wissenschaftlichen Forschungsstätten sollen sich in den kommenden Jahren die Wohnviertel von der Marina mit eleganten Restaurants und Boutiquen bis an das Felsplateau von Akreuch ausdehnen.
Die Vision scheint noch unrealistisch. Unerträglicher Gestank steigt von den Haufen aus Müllsäcken, Plastikkanistern, rostigen Dosen und anderem Unrat auf. Darin wühlen Menschen mit vor Schmutz starrender Kleidung und dreckbeschmierten Gesichtern und Händen. Mittendrin schieben Bulldozer die Abfallberge zusammen. Männer und Frauen beladen offene Lastwagen und Eselskarren mit den schmierigen Resten.
In dieser »bidonville« genannten illegalen Siedlung hausten in notdürftigen Verschlägen aus Blech oder Karton und in Zelten aus Plastikplanen sowie in wenigen gemauerten Unterständen über 1500 Familien. Schon die kleinen Kinder wurden von ihren Eltern zum Müllsortieren losgeschickt. Zur Schule durften die wenigsten. Inzwischen wurden sie, nur zehn Minuten Autofahrt vom Akreuch entfernt, in Mehrfamilienhäuser mit Zwei- und Dreizimmerwohnungen umgesiedelt.
Um die Elendsviertel hatten sich lange weder der Staat noch Politiker gekümmert. Allein die Islamisten verteilten hier großzügig Suppe, hielten aber auch aufwühlende Predigten. Um das Monopol religiöser Fanatiker zu brechen, gab Mohammed VI. ein soziales Wohnungsbauprogramm in Auftrag, an dem er sich mit seiner königlichen Stiftung beteiligt. Städte sollten sich von Slums befreien: »Villes sans bidonvilles« heißt die Parole.
Aus der verschleierten, engen Welt der Vorstädte mit ihren strikten religiösen Regeln kamen die zwölf jugendlichen Attentäter, die im Mai 2003 rasche Reform- und Liberalisierungspläne des jungen Königs durch Selbstmordattentate in Casablanca
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