Die neue arabische Welt
jäh erschütterten. Mohammed VI. setzte damals den Schriftsteller Ahmed Toufiq als Minister für religiöse Angelegenheiten ein – zum Missfallen der Ulama, der erzkonservativen Geistlichen.
Dem Außenseiter unter den Theologen trug der König nach den Attentaten auf, das Chaos in den Moscheen zu beseitigen. Toufiq, Sohn eines armen Bergbauern aus dem Hohen Atlas, besetzte den Obersten Rat der Ulama neu, sogar Frauen sind jetzt dabei. Allein dieser Rat unter Vorsitz Mohammeds VI. darf »Fatwas«, Anweisungen an die Gläubigen, erteilen. Um von fundamentalistischen Spendern wie den Saudi-Arabern unabhängig zu werden, hat Toufiq für die Arbeit in den Moscheen Mittel aus dem Staatshaushalt beansprucht. »Der König hat die Legitimität auf allen Ebenen, auch die, sein Volk in die Moderne zu führen«, erklärt Toufiq.
Doch bislang wurde aller Fortschritt von oben angeordnet. »Handelnde Monarchie« nannte Mohammed VI. sein besonders bei den Armen und bei der Landbevölkerung beliebtes Modell. Seine Projekte setzte er mit Ministern und hohen Beamten durch, die er persönlich ernannt hat.
Versagt haben vor allem die Parteien. In den 20 wichtigsten Gruppierungen spielten sich die immer selben Angehörigen des Machsan, der herrschenden Schicht, die Posten zu. Die Parteien entwickelten keine Ideen für ein besseres gesellschaftliches Zusammenleben. Selbst ihre vornehmste Aufgabe, Gesetze zu machen, überließen die Volksvertreter meist in vorauseilendem Gehorsam den Königsberatern.
Deshalb wenden sich die Wähler immer häufiger von den Politikern ab. Bei den Parlamentswahlen 2007, für die ein Erdrutschsieg der Islamisten von der PJD vorhergesagt war, kam es zum Debakel: 63 Prozent der Stimmberechtigten blieben den Urnen fern, 19 Prozent der abgegebenen Stimmen waren ungültig.
Wieder gab der König einen Impuls: Sein ehemaliger Mitschüler und enger Vertrauter Fouad Ali El Himma, lange wichtigster Mann im Innenministerium, gründete die »Bewegung aller Demokraten«. Im ganzen Land scharte er die einflussreichsten Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft um sich und formierte daraus die »Partei der Authentizität und Modernität«. Bei den Regional- und Kommunalwahlen 2009 wurde die sogenannte Partei des Königs zur mächtigsten. Viele Marokkaner wählen sie aus Verehrung für ihren Monarchen.
Jetzt hat der König alle Parteien vor eine Bewährungsprobe gestellt, als er dem Parlament und der Regierung Entscheidungshoheit anbot. »Das ist wirklich revolutionär«, begeistert sich der »Le Soir«-Chefredakteur Tazi. Die Parteien müssten endlich die Rolle als Vermittler des Volkswillens wahrnehmen, die ihnen in echten Demokratien zukommt. Einige haben immerhin Programm-Kongresse anberaumt.
Der Unternehmer Omar Balafrej, 37, hatte vor knapp zwei Jahren einen Aufruf an die Linken publiziert und war später aus der Sozialistischen Partei, für die er lange im Gemeinderat saß, ausgetreten. Zu viele alte Kämpfer aus den bleiernen Jahren hätten sich in der Regierung bequem eingerichtet, kritisierte er. Jetzt müssten sie endlich Platz machen für eine frische Generation.
Dass bei den jungen Leuten das politische Bewusstsein erwacht, stimmt ihn froh. Ende der neunziger Jahre
hatte Balafrej den »Technopark« in der Wirtschaftsmetropole Casablanca gegründet. Dort arbeiten jetzt rund 170 IT-Unternehmen, weit über 1000 Mitarbeiter mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren. Diese Gutverdienenden, weiß Balafrej, hätten fast alle die letzten Wahlen geschwänzt. Aber beim Referendum über die neue Verfassung sind sie dabei. »Wir haben ein Kap umschifft«, ist Balafrej überzeugt. Die Selbstzensur sei überwunden, man könne alles kritisieren. Schließlich gelte es in Marokko, mit über vier Millionen Armen und über 40 Prozent Analphabeten, für sozialen Fortschritt zu kämpfen.
Um den Unmut der Benachteiligten zu besänftigen, hat der König die Subventionen für Grundnahrungsmittel verdoppelt. Es gab Gehaltserhöhungen für die über 600 000 Beamten, auch für Polizei und Militär. Die Renten wurden fast verdoppelt, der Mindestlohn um 15 Prozent und die Stipendien für Studenten auf umgerechnet etwa 200 Euro angehoben.
Trotz dieser Erfolge wollen Najib Chaouki, Selma Maarouf, Omar Radi und ihre Mitstreiter vom 20. Februar den Druck auf das Regime mit Straßenaktionen aufrechterhalten – gerade nach dem Attentat von Marrakesch. Sie verlangen eine Verfassunggebende Versammlung, denn die vom König eingesetzte
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