Die neue arabische Welt
Gruppen Vorschläge für eine neue Verfassung. Wird es eine Zangengeburt?
Unter den Zuschauern, die der Truppe wild applaudieren, ist auch Najib Chaouki, 32. In Rabat hat der Blogger,
befeuert von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die »Bewegung 20. Februar« mit angestoßen. So nennen sich die protestierenden Marokkaner – nach dem Tag, an dem sie sich erstmals auf die Straßen trauten. Sehr pointiert seien die Texte in Daridscha, der Alltagssprache der Marokkaner, sehr gewagt die Anspielungen.
Vielleicht wollte deshalb keiner im Saal einen Kommentar abgeben, als die Leiter des Dabateatr – »daba« heißt »sofort« – wie üblich zur Debatte aufgefordert hatten. Doch vor der Tür diskutieren die Intellektuellen der Hauptstadt dann in der milden Nacht mit Chaouki und anderen Aktivisten.
Die haben Marokko heftig in Bewegung gebracht. Seit sie ihre Altersgenossen über Facebook für Sonntag, den 20. Februar, alarmierten, haben Zehntausende monatlich in landesweiten Kundgebungen und lokalen Grüppchen friedlich demonstriert. Sie fordern Meinungsfreiheit, gleiches Recht für alle und bessere Chancen auf Bildung, Aufstieg und Wohlstand. Es sind im Grunde die Ziele der Französischen Revolution, welche die jungen Rebellen endlich in Marokko durchsetzen wollen.
Den Abgang des Machthabers verlangen sie nicht – anders als ihre Gesinnungsfreunde in Tunesien und in Ägypten. Die hatten ein klares Ziel: Ben Ali und Mubarak zu stürzen. Die jungen Marokkaner wollen ihren König nicht stürzen, sondern ihm Reformen abhandeln. Kann das gelingen? Kann ein autoritäres Regime durch Reformen in eine Demokratie verwandelt werden?
Wie fragil die Lage ist, zeigte Ende April ein Anschlag in der Tourismusmetropole Marrakesch. Gerade in dem beliebtesten Café mit dem besten Blick auf den Platz der Gaukler – Magnet für die führende Industrie des Landes –, wo jeder Marokko-Besucher einmal Minztee getrunken
haben muss, starben 17 Menschen, die meisten von ihnen Ausländer. Und alte Ängste, dass Lockerungen aus Sicherheitsgründen wieder zurückgenommen werden könnten, kehrten zurück.
Nachdem Marokko von den Kolonialmächten Frankreich und Spanien unabhängig geworden war, schrieb die erste Verfassung – 1962 in einem Volksentscheid mit 99 Prozent der Stimmen angenommen – die fast absolutistische Rolle des Herrschers fest. Der in Frankreich promovierte Jurist Mohammed VI., der 1999 seinem mit harter Hand herrschenden Vater Hassan II. auf dem Alawiden-Thron folgte, erklärte sich bei seinem Machtantritt zur Öffnung nach dem Vorbild westlicher Demokratien bereit.
König Mohammed VI. nimmt in Fès die Huldigungen von Untertanen entgegen (Juli 2008).
Doch der »Sultan« der schon seit 1664 über Marokko herrschenden Dynastie sieht sich als direkter Nachfahre des Propheten Mohammed. Deshalb ist der König zugleich oberster Führer der Gläubigen und weltlicher Machthaber. In den Vereinigten Staaten und Europa wurde der Sunnit als Bollwerk gegen islamistische Extremisten geschätzt. Dem Westen ging Sicherheit stets vor Demokratisierung. Als 2003 Selbstmordattentäter in Casablanca 33 Menschen mit in den Tod rissen, brach der junge König die »Zeit der Laxheit«, wie er die Toleranzphase nannte, ab.
Die überwältigende Mehrheit der Marokkaner steht hinter dem König. Das hatte eine Umfrage des unabhängigen Magazins »Telquel« zu seinem zehnten Thronjubiläum 2009 ergeben. Dennoch wurde diese Ausgabe eingestampft, weil Marokkos frechste Journalisten an einem Tabu gerüttelt hatten: Über den König darf keiner urteilen, er ist sakrosankt. Ebendiese »Unantastbarkeit« wollen viele junge Leute nicht mehr hinnehmen.
»Wir wollen keinen Superman als König, der alles allein bestimmen kann«, sagt der arbeitslose Journalist Chaouki, der sechs Jahre lang in Deutschland gelebt hat. »Wir verlangen, dass alle Macht vom Volk ausgeht«, betont Selma Maarouf, 22, aus Salé, der frommen Schwesterstadt Rabats am gegenüberliegenden Ufer des Bou Regreg. Das Problem sei nicht die Monarchie, erklärt sie, »aber wer Politik, Wirtschaft und Religion dirigiert, kann nicht heilig sein«. Die Biologiestudentin und ihre Mitstreiter fordern, dass jede Macht Kontrollen unterworfen werden muss.
»Wir fordern einen Rechtsstaat«, bekräftigt Omar Radi, 25, der für Onlinemedien über Wirtschaft schreibt. Die Korruption habe überhandgenommen, Günstlinge des Palasts nutzten ihre Nähe zum König aus. Das US-Wirtschaftsmagazin
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