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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sah mich an, und ich bedeutete ihr mit einem Schulterzucken meine Ratlosigkeit. Offenbar mußten wir uns vorerst damit abfinden, daß das Tier zu unserem Schatten wurde. Möglicherweise würde es uns später gelingen, das heimtückische Biest in die Finger zu bekommen.
    Ich hatte den Schreck, den mir die Katze eingejagt hatte, gerade überwunden, als plötzlich ein Schrei ertönte. An-und abschwellend gellte er durch das Gemäuer, fing sich im Treppenschacht und heulte uns von allen Seiten entgegen. Nach wenigen Herzschlägen brach er abrupt ab. Von einem Augenblick zum nächsten herrschte Stille. Allein aus der Tiefe des Kellers ertönte in weiter Ferne noch ein sterbendes Echo.
    »Los, komm!« flüsterte ich Angelina zu, doch sie war längst losgelaufen und hatte schon einen Vorsprung von mehreren Stufen. Sie war nicht nur geschickter als ich, sondern zudem erheblich schneller. Lange vor mir erreichte sie den Treppenabsatz im Erdgeschoß, und ehe ich die weitere Richtung mit ihr abstimmen konnte, rannte sie bereits hinauf in den ersten Stock. Ich warf einen Blick in den Saal, an dem wir vorüberliefen; er erstreckte sich über zwei Stockwerke des Hauses. Weiter oben verlief eine Balustrade entlang der Wand.
    In der Mitte der Halle lag reglos und verkrümmt ein Körper, umgeben von einer glitzernden Blutlache. Ich erkannte die Leiche selbst aus der Entfernung.
    Einen Augenblick lang verharrte ich. Angelina mußte sie ebenso gesehen haben wie ich, und trotzdem war sie weiter nach oben gelaufen. Da begriff ich: Sie wollte hinauf zur Balustrade. Von dort aus hatten wir den besten Blick auf das, was geschehen würde und liefen geringere Gefahr, entdeckt zu werden.
    Schon hörte ich eilige Schritte und ein entsetztes Keuchen, nicht im Treppenhaus, sondern draußen im Saal. Ehe ich sehen konnte, wer dort herbeieilte, lief ich weiter, um tunlichst einer Entdeckung zu entgehen. Es fehlte noch, daß man mich selbst der Tat beschuldigte.
    Angelina kauerte längst hinter dem hölzernen Geländer des Rundgangs, als auch ich den zweiten Stock erreichte und neben ihr in die Knie ging. Atemlos preßte ich mein Gesicht gegen die gedrechselten Stäbe und starrte hinab in den Saal.
    Vier Menschen hatten sich bereits um den Leichnam versammelt. Die beiden übrigen kamen soeben aus unterschiedlicher Richtung hinzu.
    Überall am Boden war Blut. Der Mörder mußte zahllose Male mit einem Messer oder Dolch auf sein Opfer eingestochen haben.
    Es war nicht schwergefallen, die Tote selbst im Vorbeilaufen zu erkennen. Der weiße Haarturm, der nun blutig und halb aufgelöst dalag, war unverkennbar.
    Es war Delphine.
    Gwens Herrin lag mit verdrehten Armen und Beinen auf der Seite, das Gesicht uns zugewandt. Ich dankte dem Schicksal für die Gnade, daß ihre Lider geschlossen waren.
    Die anderen standen da und starrten fassungslos auf den Leichnam hinab. Nun waren sie alle versammelt: Faustus, Nicholas, der knöcherne Adelfons Braumeister, Schwester Walpurga, die unglaublich feiste Ariane von Lunderbusch und auch der Mann, den ich in der Nacht nur von hinten hatte sehen können und der während der ganzen Zeit über geschwiegen hatte. Er war alt und trug eine halbrunde Mütze auf dem Kopf. Sein Gesicht war faltig, das schwarze Wams bis zum Kinn geknöpft.
    Was meinen Blick von der Leiche ablenkte, war die Art und Weise, in der die fette Ariane noch immer auf ihrem runden Tablett saß. Jetzt aber lagerte es nicht mehr auf Stühlen, sondern schwebte scheinbar frei im Raum. Als ich sie genauer betrachtete, bemerkte ich, daß sich jemand unter der Platte befand, der sie nahezu ohne Schwanken in der Luft hielt. Ich erkannte die behaarten Arme und Beine der Bestie Sisyphos, den Ariane ihren Diener genannt hatte. Nun begriff ich, was sie damit meinte: Da ihre Beine die Last ihres Körpers nicht mehr zu tragen vermochten, saß Ariane tagaus, tagein auf ihrer Plattform und ließ sich auf ihr von Sisyphos umherbalancieren. Kein gewöhnlicher Mann hätte ein solches Gewicht in die Höhe stemmen können, doch der Tiermensch trug sie gebeugt auf Schultern und Rücken, als wiege sie kaum mehr als ein Sack voller Obst. Nicht einmal in einem Augenblick wie diesem stellte er sie am Boden ab. Wahrscheinlich begriff er überhaupt nicht, was geschehen war.
    Nach einem Moment gespannter Stille kam nun Bewegung in die sechs Männer und Frauen. Jammern und Klagen wandelten sich zu gegenseitigen Vorwürfen und Beschimpfungen. Allein Faustus sagte kein Wort. Er ging

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