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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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neben der leblosen Delphine in die Knie, fühlte ihren Puls, zog eines ihrer Lider hoch, blickte in ihr Auge und betastete den Oberkörper nach den mörderischen Wunden. Schließlich stand er auf und brachte die übrigen mit einer scharfen Geste zum Schweigen.
    »Sie ist tot«, sagte er in die angebrochene Stille.
    Die Hexe Walpurga kicherte leise. »Sieh an, sieh an.«
    Nicholas, dem man in der Nacht die Zwillinge zum Vorwurf gemacht hatte, die ihn begleiteten, fiel böse mit ein: »Wo sie doch so frisch und lebendig wirkt.«
    »Ich bin Arzt, Nicholas!« fuhr Faustus ihn an. »Doch selbst du solltest wissen, daß jemand, der wie eine Leiche aussieht, noch lange keine sein muß.«
    »Das ist wahr«, unterbrach ihn Arianes Fistelstimme. »Unser Adelfons ist der lebende Beweis.«
    Der Knochenmann ballte die Fäuste, verzichtete aber auf eine Erwiderung.
    Zum ersten Mal sprach jetzt der alte Mann mit der Mütze. Seine Stimme klang ernst, fast erhaben. »Du bist sicher, daß kein Leben mehr in ihr ist?« fragte er an Faustus gewandt.
    Mein Meister nickte. »So ist es.«
    Sogleich begannen Klagen und Anklagen von neuem. Allein Faustus und der alte Mann hielten sich zurück und schwiegen. Ungeachtet des vielen Blutes hob mein Meister die Leiche vom Boden und trug sie erhobenen Hauptes aus dem Saal.
    »Wo bringst du sie hin?« rief Nicholas ihm hinterher.
    »Hinunter in die Gruft«, gab Faustus zur Antwort, ohne sich nach ihm umzuschauen. »Und wenn du nur eine Unze Anstand im Leibe hast, kommst du mit und erweist ihr die letzte Ehre. Das gilt auch für euch anderen.« Dann hatte er den Saal durch die Tür zum Treppenhaus verlassen. Ich hörte, wie seine Schritte in der Tiefe verklangen.
    Nach einigem Zögern folgten ihm die übrigen, der alte Mann voran, der Rest hinter ihm her. Selbst Ariane ließ sich von Sisyphos hinab in den Keller tragen. Es war eine seltsame Prozession.
    Das letzte, was ich hörte, war Arianes Stimme, irgendwo tief unten im Treppenschacht:
    »Wer, glaubt ihr, ist der nächste?«
     
    ***
     
    Vor allem eines gab mir zu denken:
    »Sie schienen nicht überrascht, oder?« sagte ich zu Angelina, und sie nickte.
    Es war in der Tat, als hätte ein jeder erwartet, daß es einen von ihnen treffen würde. Und, das entnahm ich Arianes Worten, danach einen zweiten, dann einen dritten und so weiter und so fort.
    Noch etwas war mir aufgefallen, und ich sprach auch diese Beobachtung flüsternd aus: »Sie haben sich zwar gegenseitig beschuldigt, daß einer nicht auf den anderen achtgegeben habe, doch keiner hat einen der übrigen als Mörder verdächtigt. Sie scheinen vollkommen sicher zu sein, daß derjenige, der Delphine erstochen hat, nicht unter ihnen war. Das aber bedeutet wiederum, daß sich noch jemand im Schloß aufhalten muß.«
    Angelina deutete, vielleicht halb im Scherz, erst auf sich selbst, dann auf mich.
    Ich nickte. »Natürlich, da sind wir beide und Gwen. Und die Zwillinge. Aber sie werden wohl kaum annehmen, daß einer ihrer Diener oder Schüler der Mörder ist. Es muß ein anderer sein. Jemand, von dem wir noch nichts wissen.«
    Angelina schüttelte kräftig den Kopf, und natürlich hatte sie recht. Wir wußten wohl von ihm, und falls es noch eines weiteren Beweises für seine Existenz bedurft hatte, so hatten wir ihn nun bekommen: Der Traumvater lebte. Er mordete. Und er war irgendwo um uns, irgendwo im Schloß.
    Die plötzliche Erkenntnis jagte mir einen solchen Schrecken ein, daß ich mich sogleich angsterfüllt umsah. Auch Angelina wirkte mit einem Mal äußerst beunruhigt. Die Vorstellung, wieder durch den engen Gang und die lichtlosen Kammern zu schleichen, schien mir jetzt völlig undenkbar. Benutzte auch der Traumvater diesen Weg? War vielleicht er es gewesen, der den Riegel gelöst und die Tür nach außen geöffnet hatte?
    Ich nahm mir fest vor, nie wieder dort hinabzusteigen, ganz gleich, was geschah. Mochten sie uns doch entdecken! Mochte Faustus von mir denken, was er wollte! Auch um seinetwillen würde ich dem Traumvater nicht blindlings ins Messer laufen.
    Angestrengt dachte ich nach, was als nächstes zu tun sei. Selbst Angelina, die sonst nie um Entscheidungen verlegen war und langes Zögern verachtete, schien im Zweifel über das richtige Vorgehen.
    Fest stand, wir mußten fort aus diesem Haus. Wir waren dem Traumvater gleichgültig – so hoffte ich zumindest. Wenn es einen Zwist gab, so bestand er zwischen ihm und seinen Schülern. Wir waren nur als Gefolge mit in dieses

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