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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Angelina dachte, und mir selbst erging es kaum anders. Der Schlangenkönig war eine Legende, eine Drohung, mit der man unartige Kinder erschreckte. Gleiches galt für seine Krone: Ihr einziger Wert war es, das Elend der Waldbewohner zu offenbaren – je ärmer ein Volk, desto glänzender die Schätze in seinen Mythen und Märchen.
    Doch eines gab es, das dagegen sprach, die Sache schlichtweg als Unfug abzutun: Faustus glaubte daran. Wäre er sonst hierhergekommen? Ihm konnte unmöglich an einem Kräftemessen mit dem Traumvater gelegen sein. Auch vermochte ich mir nicht vorzustellen, daß er ernsthaft dessen Nachfolge antreten wollte. Nein, er mußte einen anderen Grund gehabt haben, den Weg hierher anzutreten.
    Ich wußte, daß er dem Glanz und Gewicht von Gold schwerlich widerstehen konnte, um so mehr, da er sich seit seiner Verfolgung durch den Hexenjäger Asendorf aus den meisten Städten fernhalten mußte. Bis dahin hatte er von den Resten seines Erbes und der Vorführung von Zauberkunststücken gelebt. Doch das Geld seines Oheims schien aufgebraucht, und Zuschauer kamen nur noch, wenn man ihn auf den Scheiterhaufen führte. Ohne eine stattliche Anzahl von Münzen aber war es unmöglich, die Reise nach Rom anzutreten, und so mag ihm die Lockung des Traumvaters durchaus zupaß gekommen sein.
    Das aber bedeutete, daß zwar der Schlangenkönig selbst ein Hirngespinst sein mochte, seine Krone aber durchaus existierte. Denn mein Meister war zweifellos keiner, der sich aufmachte, Luftschlösser zu erstürmen. Irgend etwas, sei es Ahnung oder Wissen, mußte ihn überzeugt haben, daß der Traumvater die Wahrheit sagte: Der Schlangenschatz war hier im Schloß.
    All das Gerede über Träume muß mich stärker beschäftigt haben, als ich selbst für möglich gehalten hatte, denn in den wenigen Stunden, die uns zum Schlafen blieben, erschien mir ein Engel.
    Ich hatte sein Gesicht nie zuvor gesehen, und doch wußte ich mit völliger Gewißheit, daß es Angelina war. So, wie sie vor der Verbrennung ausgesehen hatte. Sie eilte mir mit federnden, schwebenden Schritten entgegen, das weißblonde Haar wallend auf ihren nackten Schultern, ein betörendes Lächeln auf den schönen Zügen. Ihr Körper, glatt und zart und ebenmäßig, schimmerte in einem unirdischen Licht, während sie näher und näher kam. Ich blickte ihr erwartungsvoll entgegen, hoffte auf ihre Umarmung, ihre Sanftmut, und so öffnete ich beide Arme, um sie zu empfangen. Auf ihrem Rücken entfalteten sich strahlende Engelsschwingen.
    Dann aber stand sie vor mir, und ich erkannte die furchtbare Wahrheit. Ich starrte auf ihre Schwingen und begriff, daß das, was ich für leuchtende Federn gehalten hatte, in Wirklichkeit blitzende Klingen waren. Messerscharfe Schneiden, tückisch und glitzernd. Die Messerflügel klappten auf wie ein offenes Buch, sie bogen sich nach vorne und kamen auf mich zu. Ihre Spitzen berührten sich in meinem Rücken, ihre Umarmung wurde enger und enger, bis sie mich fest an Angelina drückten, auf ihre Haut, in ihren Schoß. Doch es waren keine Wonnen, die ich spürte, es waren allein die Klingen, die von überall in meinen Körper schnitten, Haut und Fleisch und Knochen zerfetzten.
    Ich erwachte verschwitzt und mit Tränen in den Augen. Unmöglich, noch einmal einzuschlafen. So wartete ich, bis der Morgen graute und der erste Schimmer des neuen Tages auf mein Lager fiel. Dann stand ich auf und sprang geschwind ans Fenster.
    Bei Tageslicht, selbst wenn es so trüb und zögerlich über die Baumwipfel kroch, verlor die Ruinenlandschaft viel von ihrem unirdischen Zauber. Ich war recht froh darüber. Das, was wir von Gwen erfahren hatten, war für sich allein bereits bedrohlich genug. Die Umgebung mußte nicht auch noch das ihre dazutun.
    Freilich blieb das Haupthaus ein finsterer Koloß, und auch die Trümmer der Nebengebäude wirkten kaum erfreulicher als in der Nacht. Zudem lag ein Nebelschleier über dem Boden, so daß es aussah, als ragten die Ruinen aus einem stillen, weißen See. Wallend drängten seine Gestade gegen die verfallenen Mauern und umschmeichelten das schwarze Moos.
    »Also doch nur ein Traum«, sagte hinter mir eine müde Stimme. Gwen war aufgewacht. Sie erhob sich, ohne ihre Worte zu erklären. Vielleicht war es besser so; es reichte, daß ich mit meinen eigenen Nachtmahren kämpfte.
    Angelina setzte sich ebenfalls auf, und eine Weile später hockten wir alle drei auf Mauerstümpfen unweit des Gästehauses. Der Nebelsee reichte

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