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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bereiten.«
    »Ihr meint, er hat die Tür geöffnet, damit wir es bemerken?«
    »Ja. Und er will sicher, daß wir hindurchgehen.«
    Ich warf einen angstvollen Blick zu Angelina, doch auch sie konnte nur mit den Achseln zucken. Faustus war uns erneut voraus, nicht nur mit seinen Schlüssen, auch auf den Füßen. Während wir noch zögerten, betrat er bereits den Raum.
    Angespannt folgten wir ihm und sahen uns um. Ein Bett, ein Schrank, eine Kommode. Staub und Schmutz und Spinnweben.
    Natürlich, der Spiegel.
    Er war geöffnet. Jemand hatte die Glasfläche von der Rückseite aus herausgenommen.
    Faustus trat ohne zu zögern vor die dunkle Öffnung. »Mir scheint, er lädt uns ein.«
    »Eine Falle«, stieß ich hervor.
    »Das glaube ich nicht«, gab Faustus zur Antwort, und ehe ich ihn zurückhalten konnte, stieg er schon durch den Rahmen.
    »Meister, seid vorsichtig«, rief ich und eilte auf ihn zu.
    Faustus sah sich im Geheimgang um. »Hier ist niemand«, sagte er. »Wagner, sei so gut und hole aus dem Treppenhaus eine Fackel.«
    Zögernd wandte ich mich ab, lief aber dann so schnell ich konnte. Nur wenige Augenblicke später kehrte ich mit einer brennenden Fackel zurück.
    Faustus nahm sie entgegen. »Das hier ist keine Falle. Er macht sich vielleicht über uns lustig, doch er hält uns nicht für dumm. Er will uns klarmachen, daß er weiß, daß wir den Geheimgang entdeckt haben. Er zeigt uns, daß er uns wieder einen Schritt voraus ist. Und er möchte, daß wir etwas finden.«
    »Etwas finden…«, murmelte ich nachdenklich. »Die Zwillinge?«
    »Das befürchte ich. Angelina, du wartest hier und bewachst den Eingang. Wagner, du kommst mit mir!«
    Mit einem heftigen Rumoren im Bauch stieg ich durch den Spiegel und betrat den gar-nicht-mehr-so-geheimen Gang. Er war kaum mehr als schulterbreit, allerdings ebenso hoch wie die Zimmer. Ich hatte mir bislang nie Gedanken über seinen Verlauf gemacht, jetzt aber wurde mir klar, wie aufwendig es gewesen sein mußte, ihn anzulegen. Im Grunde genommen hatte man das ganze Haus um ihn herumgebaut. Da offenbar jede einzelne Wand des Gebäudes einen solchen Hohlraum besaß, stellten Türen und Fenster unerwünschte Hindernisse dar: Dort wo sie die Mauern durchbrachen, mußten die Gänge enden. Um dies aber zu vermeiden, hatte man ein kompliziertes System von Leitern und steilen Treppen errichtet, welche die verborgenen Korridore um die Tür-und Fensteröffnungen herumleiteten. Im Falle unserer Zimmertür sah dies so aus, daß der Geheimgang vor ihr endete, die Mauer jedoch eingekerbte Stufen besaß. An ihnen mußte man hinaufklettern und gelangte so in den Hohlraum zwischen den Wänden des darüberliegenden Stockwerks. Dort konnte man bequem über die störende Tür hinweggehen und auf der anderen Seite wieder hinuntersteigen. Hätte man nun, wie allgemein üblich, die Türen aller Stockwerke genau übereinander angeordnet, wären diese Umgehungen unmöglich gewesen; deshalb hatten die Erbauer des Schlosses alle Türen zueinander versetzt, meist um einen bis zwei Schritte. So ergab sich insgesamt ein unglaublich komplexes Gewirr aus Gängen, Hohlräumen und Schächten, alle untereinander verbunden wie die Streben eines engen, aber unregelmäßigen Gittergeflechts. Demnach war es möglich, schon nach wenigen Schritten in ein anderes Stockwerk zu wechseln und mögliche Verfolger in die Irre zu führen. Es war in der Tat, als hätte man das ganze Gemäuer nur errichtet, um darin die Geheimgänge zu verstecken.
    Die weitverzweigte Anlage der Hohlräume brachte es jedoch mit sich, daß alle paar Schritte Löcher im Boden gähnten, dort also, wo es Verbindungen zwischen den Stockwerken gab. Diese Öffnungen waren nicht gekennzeichnet und konnten so zu gefährlichen Fallgruben werden. Stets mußten wir achtgeben, wohin wir unsere Füße setzten, um dann mit einem weiten Schritt über diese Verbindungslöcher hinwegzusteigen.
    Hätte es noch eines weiteren Beweises bedurft, daß der Mörder sich über uns lustig machte, so waren dies die Pfeile, die er mit Blut an die Mauern geschmiert hatte. Sie wiesen alle in eine Richtung, um mehrere Ecken herum und immer wieder Leitern und Stufen hinauf und hinunter.
    Schließlich fanden wir die Leiche.
    Das Mädchen lag am oberen Ende einer Leiter, ein Stockwerk über uns. Kopf und Arme baumelten über die Mauerkante herab, das Gesicht war uns kopfüber zugewandt. Die Augen der Kleinen standen weit offen, das lange Haar hing wie ein schwarzer

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