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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gewandt oder nordwärts, egal wohin. Zum ersten Mal spürte ich einen leisen Anflug von Reue, daß ich mein bequemes Leben an der Hohen Schule zu Wittenberg gegen ein Dasein an Faustus’ Seite eingetauscht hatte. Mir war klar, daß diese Empfindung schnell vergehen würde, doch in Augenblicken wie diesem stand sie turmhoch über all meinem Denken.
    Da wurde mit einem Mal die Tür des Bankettsaals aufgerissen, und Nicholas Erasmo stürmte herein. Sein Gesicht glänzte von Schweiß, sein Atem raste. Er war vollkommen außer sich.
    »Sie sind fort!« schrie er aufgebracht. »Beide sind fort! Ich habe sie überall gesucht.«
    Faustus sprang auf. »Die Zwillinge?« fragte er alarmiert.
    »Wer sonst, um Himmels willen!« Nicholas’ Stimme drohte sich zu überschlagen. Er taumelte erschöpft auf uns zu und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte. Graue Haarsträhnen klebten ihm an der Stirn, hatten sich vom Schweiß fast schwarz gefärbt. »Ich habe gesucht, im Zimmer, im Flur, in den anderen Räumen, überall. Weder Bosch noch Walpurga haben sie gesehen. Sie sind fort! Einfach fort!«
    »Warst du im Keller?« fragte Faustus. »Und auf dem Dachboden?« Jeder wußte, daß Nicholas dazu gar keine Zeit geblieben war.
    »Nein«, brachte der Musiker atemlos hervor. »Aber… bedeutet das, daß auch ihr sie nicht gesehen habt?«
    Es mochte ungerecht ihm gegenüber sein, doch mich erstaunte, wie besorgt er um die beiden Mädchen war. Ich hatte angenommen, für ihn waren sie nicht mehr als hübsches Spielzeug, jederzeit verfügbar, willig und leicht zu beherrschen. Daß ihr Verschwinden ihn nun in solche Verzweiflung stürzte, schien mit meinem bisherigen Bild von Nicholas unvereinbar.
    »Sie waren nicht hier«, sagte Faustus. »Wir haben sie ja ohnehin kaum zu Gesicht bekommen.«
    »Ich glaubte, sie wären oben im Zimmer«, sagte Nicholas und stieß die Worte dabei so schnell aus, daß es schwierig war, ihnen zu folgen. »Wenigstens waren sie dort, als ich wegen des Essens herunterging. Als ich zurückkehrte, waren sie fort.«
    »Vielleicht sind sie fortgelaufen«, schlug ich vor. Die Bemerkung sollte gedankenlos wirken, einfach so dahergeredet, tatsächlich aber wollte ich Nicholas damit treffen. Was immer die Mädchen ihm bedeutet hatten, letztlich waren sie nicht mehr als Lustsklavinnen gewesen. Er hatte es verdient, unter ihrem Verschwinden zu leiden.
    Seine Stimme steigerte sich zu einem grellen Kreischen. »Was wagst du, Knecht? Sie wären niemals davongelaufen. Sie hatten es gut bei mir.«
    »Das sieht man an dem angenehmen Ort, an den Ihr sie geführt habt«, erwiderte ich mit betonter Ruhe.
    Nicholas stieß sich von der Tischkante ab und wollte auf mich losgehen, als Faustus zwischen uns trat und den Musiker zurückhielt. »Hört auf! Wir müssen die Kinder suchen, wenn wir Gewißheit haben wollen.«
    Nicholas und ich starrten uns noch einen Augenblick lang in erbitterter Feindschaft an, dann aber entspannte er sich und nickte. »Ich werde hinunter in den Keller gehen. Vielleicht sind sie dort.«
    »Tu das«, stimmte Faustus zu. »Und gib auf dich acht. Wir werden derweil hier oben suchen. Das ist alles, was wir tun können.«
    Angelina und ich erhoben uns von unseren Plätzen, während Nicholas den Saal verließ. Einen Moment später hörten wir, wie er hinab in die Kellergewölbe eilte.
    »Heißt das, wir werden erneut das ganze Haus durchsuchen?« fragte ich müde. »Wahrscheinlich sind sie ihm wirklich davongelaufen.«
    Faustus griff nach einem Brotkanten und ging damit zur Tür. »Ich weiß, wo wir sie finden. Vorausgesetzt, du hast unrecht, Wagner.«
    »Ihr wißt…? Aber woher?«
    »Logik, mein Lieber. Die Logik des Mörders.« Er lächelte jetzt beinahe spöttisch.
    Ehe einer von uns etwas erwidern oder weitere Fragen stellen konnte, sagte er: »Kommt schon mit.«
    Wir folgten ihm verwundert die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock. Dort bog er ab und ging den Gang zu unseren Zimmern hinab. Bevor wir sie aber erreichen konnten, stellten wir fest, daß eine der anderen Türen offenstand. Sie gehörte zu dem leerstehenden Zimmer, das gleich an Angelinas und meines grenzte.
    »Die Tür war geschlossen, als wir nach unten gingen«, sagte ich.
    Faustus nickte zufrieden. »Allerdings.«
    »Nicholas könnte sie geöffnet haben, als er nach den Mädchen suchte«, gab ich zu bedenken.
    »Möglich. Aber ich glaube eher, der Mörder will mit uns spielen. Die Sache beginnt, ihm Vergnügen zu

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