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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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denken, geschweige denn davon zu sprechen.
    Endlich ließen wir den Spiegel Spiegel sein und schoben, dem Rat meines Meisters entsprechend, den schweren Schrank davor. Niemand würde jetzt noch unbemerkt eindringen können – vorausgesetzt, es gab keine weiteren geheimen Kammern und Türen. Doch eine ausgiebige Untersuchung des Zimmers brachte kein entsprechendes Ergebnis. Es schien, als wären wir vorerst in Sicherheit. Ein Gefühl, das trügen mochte.
    Wir vertrieben uns die Zeit mit unserer Zeichensprache und bemühten uns so gut wie möglich, unsere Verlegenheit und Verwirrung zu meistern. Ich zog es seit jeher vor, Unangenehmes zu verdrängen, und so war es auch mit meinen Gedanken über den Mord an Ariane. Ich gab mir alle Mühe, so zu tun, als hätte das Verbrechen nie stattgefunden.
    Als es Abend wurde und ein weiterer nutzloser Tag im Schloß sich seinem Ende zuneigte, gingen wir hinunter in den Bankettsaal. Mein Magen knurrte ganz erheblich, schließlich hatte ich zuletzt am Tag zuvor gegessen. Die Gefahr einer Vergiftung schien mit einem Mal nebensächlich. Fraglich blieb allerdings, wer unsere Speisen zubereiten mochte; es gab keine Diener, und sicherlich würde niemand zulassen, daß ein anderer sich an seinem Essen vergriff.
    Meine Befürchtung erwies sich als zutreffend, denn alles, was es gab, waren trockene Früchte, rohes Gemüse und steinhartes Brot. Auch waren sie nicht auf der Tafel aufgetragen. Vielmehr diente der Saal nur als Treffpunkt, von dem aus wir zu einer Speisekammer gingen, in der alle Nahrung lieblos auf einem Haufen lag. Die Tür war durch drei Schlösser gesichert; Faustus, Nicholas und Walpurga hatten gleich nach der Ankunft auf ihren Betten je einen Schlüssel vorgefunden. Nur gemeinsam konnten sie den Zugang öffnen. Das sollte wohl verhindern, daß irgendwer sich allein an der Nahrung zu schaffen machte; was für sich genommen vielleicht der größte Hohn war, denn wer anders als der Traumvater selbst wollte seinen Schülern ans Leben? Die größte Gefahr ging daher von ihm aus, und so wunderte mich, daß alle in blindem Vertrauen seine Speisen aßen. Jedoch, was blieb uns anderes übrig, und so deckte auch ich mich mit Obst und Gemüse ein. Selbst Angelina griff zögernd nach ein paar Mohrrüben.
    Verzehrt wurde das Essen nicht etwa in der Speisekammer. Jeder durfte sie nur einmal betreten, stets überwacht von den mißtrauischen Blicken der übrigen. So wollte man einem möglichen Giftanschlag vorbeugen.
    Nicholas griff reichlich zu, um auch den Zwillingen ihren Anteil zu sichern. Er zog sich als erster in sein Zimmer zurück, was ich ihm kaum verübeln konnte, denn die Stimmung unter uns Überlebenden hatte ihren Tiefpunkt erreicht. Mißtrauen und Mißgunst beherrschten die trüben Gespräche. Allein Bosch gab sich betont gelassen. Ich glaube, selbst Faustus verlor allmählich seine Ruhe, wenngleich er doch mit der Entdeckung des Geheimgangs vor den übrigen Schülern im Vorteil war.
    Wir saßen gerade im Bankettsaal beieinander, als mir plötzlich etwas einfiel: »Meister!« rief ich erschrocken aus. »Was ist mit den Pferden? Werden nicht auch sie langsam hungrig sein?«
    Faustus verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Du mußt mich für einen wahren Unmensch halten, mein Lieber. Natürlich haben die Pferde Hunger. Und natürlich habe ich ihnen täglich Gras und Hafer gefüttert. Sie stehen in einem alten Stall, draußen in den Gärten. Das Dach ist nicht mehr ganz dicht, und die Westfront zerfallen, doch an Wasser und Nahrung fehlt es den Tieren dort nicht. Unser Gönner« – er sprach das Wort mit deutlicher Verachtung aus – »hat sogar dafür gesorgt.«
    Dergestalt in meiner Unruhe beschwichtigt, kaute ich lustlos auf einem runzligen Apfel herum. Faustus’ Erwähnung von »frischen« Vorräten mußte einer seiner merkwürdigen Scherze gewesen sein, die allein er verstand.
    Bosch und Walpurga erhoben sich schon nach kurzer Zeit und gingen hinauf in ihre Zimmer. Nun saßen Faustus, Angelina und ich allein an der riesigen Tafel. Trotz meiner beiden Freunde fühlte ich mich verlorener denn je. Der gespenstische Saal und die gewaltige, von zahllosen Messern eingekerbte Tischplatte bereiteten mir Unbehagen. Die Vorstellung, wie belebt dieser Ort einst gewesen sein mußte und was heute aus ihm geworden war, machten das bedrückende Gefühl der Einsamkeit fast unerträglich. Ich wünschte mich zurück auf die Straße, auf den Rücken meines Pferdes, südwärts

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