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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Zimmer schon durchsucht?«
    »Gewiß. Zumindest wissen wir nun, wie wir uns nachts vor dem Mörder schützen können. Ich schlage vor, ihr geht gleich nach oben und schiebt einen Schrank vor euren Spiegel. Das mag ihn im Ernstfall nicht aufhalten, doch bis er ihn beiseite gerückt oder umgeworfen hat, seid ihr längst gewarnt. Ich werde in meinem Zimmer das gleiche tun.«
    »Was ist mit den anderen? Wollt Ihr ihnen nicht von Eurer Entdeckung berichten?«
    »Damit der Mörder weiß, daß wir zumindest eines seiner Geheimnisse aufgedeckt haben? Nein, ich glaube, das wäre nicht klug.«
    »Aber sonst können sie sich nicht vor ihm schützen«, warf ich ein, unsicher ob seiner Kaltblütigkeit.
    »Denk doch nach«, forderte Faustus mich barsch auf. »Was ist dir wichtiger: Daß wir sicher sind oder die anderen?« Dabei warf er einen kurzen Blick auf Angelina, der nur scheinbar willkürlich war. Tatsächlich wußte ich, daß er mein Empfinden durchschaut hatte. Er wollte sagen: Ist dir Angelinas Sicherheit weniger wert als die der Traumschüler?
    Ich nickte schließlich, und auch Angelina, die den wahren Sinn seiner Worte nicht bemerkt hatte, stimmte zu. Dabei fragte ich mich längst, wer von uns beiden eigentlich wen beschützte. Nachdem ich gesehen hatte, wie leichthändig sie Faustus überwältigt hatte, schienen mir unsere Rollen mit einem Mal vertauscht. Dabei wußte ich doch schon lange um ihr besonderes Geschick im Kampf; sie hatte es nur seit Wochen nicht einsetzen müssen. Männer neigen dazu, die Talente der Frauen zu vergessen, wenn sie ihnen nicht täglich vor Augen geführt werden.
    (Natürlich fragt Ihr Euch nun, mißtrauischer Leser, wie ein solcher Satz der Feder des alten Wagner entfließen kann. Nun, tatsächlich war dies kein Gedanke, den ich damals faßte. In Wirklichkeit ersann ich diesen trefflichen Ausspruch erst vor wenigen Wochen, als meine Magd sich tagelang weigerte, für mich zu kochen, denn ich hatte nach einer Zecherei ihren Eintopf erbrochen. Ich begann also, mein Essen außer Haus einzunehmen, und war ganz zufrieden damit, bis mir auffiel, welche Summen solche Schlemmerei verschlang. Ich besann mich deshalb eilig auf die niedere Kochkunst dieser Hexe und log ihr die Hucke voll, wie wunderbar es bei ihr munde. Dabei kam mir plötzlich der obige Satz über die Lippen, und sie war so begeistert von meiner Heuchelei, daß ich beschloß, ihn sogleich in meine Schrift aufzunehmen, in der Hoffnung, den Weibern unter Euch Lesern zu gefallen. Ihr Männer wißt es ohnehin besser.)
    Faustus schien zu erwarten, daß wir uns sofort aufmachen und nach oben gehen würden.
    »Was ist mit Euch?« fragte ich und blieb stehen. »Kommt Ihr nicht mit uns?«
    »Und der Spiegel?« entgegnete er. »Soll ich ihn offen lassen, damit jeder sein Geheimnis erfährt? Er läßt sich nur von der Rückseite schließen, deshalb werde ich den Geheimgang benutzen.«
    Ich ahnte schon, daß er plante, das System der Gänge noch weiter zu erforschen – allerdings ohne uns. Was blieb uns also, als seinen Willen zu akzeptieren?
    Wir verließen gehorsam den Raum, nicht ohne uns an der Tür vorsorglich zu vergewissern, daß niemand gelauscht hatte oder uns auf dem Rückweg beobachten konnte.
    In unserem Zimmer traten wir sogleich vor den Spiegel und unterzogen ihn einer genauen Untersuchung. Er war an der gleichen Stelle angebracht und ebenso groß wie jener im Stockwerk unter uns, wenngleich sich sein Rahmen in Einzelheiten von jenem in Arianes Raum unterschied. Angelina klopfte gegen das Glas, doch es klang nicht einmal hohl, so dick war die Scheibe. Faustus mußte einige Gewalt angewendet haben, um einen dieser Spiegel zu zerbrechen. Mich wunderte, daß der Krach nicht im ganzen Haus zu hören gewesen war.
    Tatsächlich sah der Zugang zum Geheimgang wie ein ganz gewöhnlicher Spiegel aus. Ich bemerkte, daß Angelina die Glasfläche viel länger musterte als nötig, bis mir klar wurde, daß sie ihr eigenes entstelltes Gesicht betrachtete. Ich wagte nicht, mir vorzustellen, was in ihrem Kopf vorging.
    Dabei fühlte ich selbst mich von ihren Zügen längst nicht mehr abgestoßen. Nicht, daß meine Gefühle für sie den Anblick schönten, keineswegs. Ich sah das geschmolzene und verbrannte Fleisch mit den gleichen Augen wie jeder andere, und doch vermochte ich, durch die Oberfläche hindurchzuschauen. Ich wußte sehr wohl, was das bedeuten mochte. Und doch: Ich wagte nicht einmal, an diese Empfindung, an das gefürchtete Wort zu

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