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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fächer über den Sprossen. Dunkle Blutfäden waren an den schneeweißen Armen herabgelaufen und an ihren Fingerspitzen zu glitzernden Rubinen geronnen. Eine häßliche Wunde führte quer über ihren zerbrechlichen Hals. Jemand hatte dem Mädchen die Kehle durchgeschnitten.
    Sein Zwilling war nirgends zu sehen.
    Obgleich ich versucht hatte, mich gegen den Anblick zu wappnen, so erschütterte mich der Tod des Kindes doch zutiefst. Alles, was es im Leben erfahren hatte, waren die Schändungen eines skrupellosen Lüstlings gewesen. In diesem Augenblick war mein Haß auf Nicholas fast noch größer als der auf den Mörder.
    Auch Faustus war entsetzt, obgleich er doch auf seinen Reisen weit Schlimmeres gesehen hatte als das hier. Er war von Anfang an überzeugt gewesen, daß wir die Leiche finden würden, trotzdem war sein Gesicht jetzt starr und farblos. Vielleicht war es auch nur eine Täuschung des Fackellichts.
    Nachdem wir unser erstes Entsetzen überwunden hatten, machten wir uns daran, die Tote zu bergen. Unter einigen Mühen und – ich will es gern gestehen – manch stiller Träne schafften wir das tote Mädchen durch das Labyrinth der Gänge zurück ins Zimmer. Angelina kam uns entgegen, nachdem sie uns gehört hatte, doch die Hilfe, die sie uns anbot, war in der Enge des Korridors nutzlos.
    Wir legten den Leichnam auf das Bett und berieten uns mit schweren Herzen.
    »Wo ist ihre Schwester?« fragte ich und erschrak insgeheim, wie leicht die Worte über meine Lippen kamen. Sie bedeuteten die Verdopplung allen bisherigen Leids, und doch klang meine Frage seltsam unbeteiligt.
    »Irgendwo im Haus«, erwiderte Faustus mit schwacher Stimme, eine ungewöhnlich vage Auskunft aus seinem Mund.
    »Sollen wir noch einmal dort hinein und nach ihr suchen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Es wird mehr und mehr zum Spiel für den Mörder. Die Pfeile endeten an der Leiche. Das zweite Mädchen muß demnach anderswo liegen. Aber ich bin sicher, wir werden sie bald schon finden.«
    Faustus nahm das tote Mädchen quer über beide Arme und trug es hinunter. Das hauchdünne Kleidchen war blutgetränkt und schmiegte sich um den zierlichen Körper wie eine zweite, dunkelrote Haut.
    Nicholas, der uns aus dem Keller entgegenkam, brach zusammen, als er sah, welche gräßliche Last Faustus in den Armen hielt. Er weinte und schrie, bis auch Bosch und Walpurga zu uns stießen, und gemeinsam bildeten wir eine neuerliche Prozession in die toten Tiefen des Gruftgewölbes.
    Angelina blieb auf der Treppe zurück, während Bosch nunmehr zum dritten Mal sein Gebet sprach. Ihm war anzusehen, daß er selbst nicht mehr an die Worte glauben mochte. Sie klangen längst spröde und leer, und der Trost, den sie spenden sollten, war wie ungewollter Hohn. Es war ein schrecklicher Moment, als Faustus endlich die dünne Steinplatte auf das Wandgrab preßte, hinter der das Mädchen seine letzte Ruhe fand. Obgleich dies nicht der erste Mord war, und wir alle ahnten, daß weitere folgen mochten, so war es doch derjenige, der uns am meisten berührte. Nicholas verstummte schließlich, und die Stille, die sich über die Lebenden und Toten legte, war viel bedrückender als sein Weinen und Wehklagen.
    Alle fragten sich, wo die Leiche des zweiten Zwillings liegen mochte, und nach endlosem Zögern entschlossen wir uns schließlich, Haus und Garten neuerlich zu durchsuchen. Diesmal bildeten wir keine Gruppen, sondern blieben alle beisammen. Wir begannen auf dem Dachboden, durchforsteten den ersten und zweiten Stock, dann das Erdgeschoß.
    Im Keller schließlich traf uns die Grausamkeit des Mörders mit all ihrer Häme und Schadenfreude. Faustus hatte recht; es war ein Spiel. Und unser Feind trumpfte von neuem auf.
    Während wir das erste Mädchen bestattet hatten, hatte uns nur eine Wand von seiner toten Schwester getrennt. Die zweite Leiche lag in einer tiefen Pfütze, nur eine Tür von der Gruft entfernt. Nicholas gestand, bei seiner Suche im Keller nur einen flüchtigen Blick in die Kammer geworfen zu haben. Das Kind war fast vollständig von schlammigem Wasser bedeckt, nur ein weißer Arm ragte hervor. Daneben lag der abgetrennte Schädel, und der Mörder hatte das lange schwarze Haar so über Gesicht und Arm ausgebreitet, daß beides im Fackellicht kaum auffiel. Der Kellerboden lag voller Schmutz und Gerümpel, und Torso und Schädel fügten sich beinah unsichtbar ein.
    Es war Bosch, den Blick von seiner Malerei geschärft, der das Mädchen schließlich entdeckte.

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