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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mal sein Schluchzen zu hören. Im Kerker herrschte völlige Stille. Totenstille.
    Die Kette war unverändert um zwei Gitterstangen geschlungen, ihre Enden in der Wand verankert. Die Tür war nicht geöffnet worden. Innerlich atmete ich auf. Erleichterung ist etwas, das aus uns herausdrängt, lautstark aus unserem Inneren bricht. Ich bezwang sie mit Mühe, schalt mich zur Ruhe. Das Kribbeln im Bauch aber blieb.
    Noch drei Schritte. Dann würde ich in die Zelle blicken können.
    In der Finsternis raschelte etwas. Aufgeregt schaute ich mich um. Niemand war zu sehen, nicht hinter mir, nicht vor mir. Vielleicht war es eine Ratte. Jawohl, nur eine Ratte, nichts sonst. Der Gedanke hätte mich beruhigen sollen. Er konnte es nicht.
    Ich ging weiter. Zwei Schritte. Nur noch einer.
    Ehe ich das letzte Stück überwand, preßte ich mich eng an die Mauer neben der Zellentür. Ich mußte den Winkel, in dem ich in die Zelle blickte, so klein wie möglich halten. Nicholas sollte mich auf keinen Fall entdecken.
    Unendlich langsam schob ich mein linkes Auge über die Mauerkante hinaus. Erst Stein, dann Metall – der Rahmen des Eisengitters – füllten mein Blickfeld aus. Dann hatte ich freie Sicht in die Zelle.
    Die Augen des Musikers waren weit geöffnet. Da war viel Weiß in ihnen, ungewöhnlich viel Weiß. Er hatte die Lider aufgerissen, bis es schmerzen mußte, und nun schimmerten seine Augen wie Glaskugeln, von denen sich die dunklen Iriden abhoben wie ungewollte Makel.
    Er lehnte immer noch mit dem Rücken zur Wand, saß am Boden und hatte die Knie angezogen. Das graue Haar stand in Strähnen ab, verdreht wie leblose Käferbeine. Seine Lippen waren eng zusammengepreßt. Er sprach nicht – aber er atmete.
    Es gab keinen Zweifel: Nicholas lebte. Ihm war nichts geschehen.
    Hatte ich doch nicht so lange geschlafen? Vielleicht nur wenige Augenblicke? Hatte nie Gefahr bestanden, daß ihm etwas zustieß?
    Wieder das Rascheln. Nicht näher, nicht weiter entfernt. Sehr leise.
    Ich zog den Kopf zurück, ehe Nicholas mich bemerken konnte. Das Geräusch kam nicht aus der Zelle, soviel war sicher. Der Gefangene hatte sich nicht bewegt.
    Hatte mich der gleiche Laut aus meinem Schlaf geweckt? Das würde bedeuten, daß es keine Ratte war. Ratten bewegten sich. Sie kamen und liefen davon. Die Laute, die sie verursachten, ertönten nicht zweimal von derselben Stelle.
    Ich schaute mich erneut um, sah aber nichts. Meine Schwerthand begann zu zittern.
    Das Rascheln wiederholte sich erneut. Wieder an der gleichen Stelle. Es kam aus der Dunkelheit jenseits der Fackel. Ich blinzelte und versuchte, durch das Feuer hindurchzuschauen. Vergeblich. Die Flammen lenkten meine Blicke ab, schlimmer noch: Sie blendeten. Eine Weile lang tanzten sie als grüne und rote Schemen. Ich durfte auf keinen Fall ein weiteres Mal hineinschauen. Vielleicht war es gerade das, was die Laute bezweckten: Meinen Blick in die Flammen lenken, meine Augen betäuben. Eine List.
    Nochmal das Rascheln. Dann bewegte auch Nicholas sich. Ich preßte mich enger an die Wand und horchte, als er nach vorne ans Gitter trat.
    »Ist da jemand?« fragte er unsicher.
    Ich wagte nicht, ihm den Kopf zuzuwenden. Ich wußte auch so, daß er sein Gesicht jetzt gegen die Stäbe preßte, bis die Haut dazwischen hervorquoll. Angestrengt rollte er mit den Augen, suchte nach demjenigen, der das Geräusch verursacht hatte. Falls es nicht doch nur ein Tier gewesen war.
    Aber es war kein Tier. Dessen war ich mir mit einem Mal sicher. Zuletzt war es wohl die Feststellung meines Meisters, die mir die Wahrheit vor Augen führte: Er spielt mit uns, hatte Faustus gesagt.
    Und er tat es auch jetzt, genau in diesem Moment.
    Er verursachte Laute, immer wieder.
    Eine Vision: Ein grinsendes Gesicht in den Schatten, verdeckt vom schützenden Wall der Flammen. Gelbrotes Licht zuckt über wesenlose Züge.
    Ich wußte nicht, wer es war. Doch daß dort jemand stand und in voller Absicht mit seiner Kleidung raschelte, daran hatte ich nun keinen Zweifel mehr. Er machte sich lustig über meine Furcht, mein Zögern, mein Schleichen.
    Mein Herz bewegte sich in meinem Brustkorb wie ein gefangenes Tier, schien auf-und abzuspringen.
    Der Mörder war da. Nur wenige Schritte von mir entfernt. Und er spielte wieder, spielte, wie er es schon seit Tagen tat.
    Ich brauchte nur einen Augenblick, um die Gefahren abzuwägen. Davonlaufen? Nein, dann war Nicholas wehrlos. Also angreifen. An der Zellentür vorbeispringen, das Schwert im

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