Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Anschlag. Nicholas würde mich sehen, na und? Es ging jetzt um sein Leben und um meines. Das Versteckspiel war zu Ende.
Ich setzte den Plan in die Tat um. Mit einem Sprung setzte ich am Gitter vorüber. Ich bemerkte, wie Nicholas erschrocken zurücktaumelte. Auch die Fackel blieb hinter mir zurück. Ich hatte nicht hineingeschaut, trotzdem blendete mich ihre Helligkeit. Einen winzigen Moment lang war ich abgelenkt, kämpfte um mein Augenlicht. Dabei stieß ich das Schwert in die Dunkelheit, einfach voraus, in der Hoffnung, jemanden zu treffen.
Plötzlich waren Schritte vor mir. Leichtfüßige, behende Schritte. Sie entfernten sich von mir. Der Mörder ergriff die Flucht.
Ich setzte ihm sofort nach, tiefer in die Finsternis, bis mir klar wurde, daß ich die Fackel brauchte. Ich lief zurück, entriß sie ihrer Halterung und nahm damit die Verfolgung auf. Die Schritte waren noch immer zu hören, doch sehen konnte ich den Flüchtigen nicht. Sein Vorsprung im Dunkeln war zu groß.
Wohin der Gang führte? Ob ich je zurückfinden würde? Fragen, die ich mir in diesem Augenblick nicht stellte. Ein merkwürdiger Zwang hatte mich gepackt, eine ungewohnte Kraft trieb mich vorwärts. Es war kein Mut und auch kein Leichtsinn. Eher eine brennende Neugier, der Drang, endlich das Geheimnis zu lüften – und vor allem: es vor Faustus zu lüften.
Die Fackel riß einen Ausschnitt von allenfalls zehn Schritten aus dem Dunkel. Rechts und links zweigten gelegentlich weitere Gänge ab. Mein rasselnder Atem und das Scheppern meiner Stiefel übertönten die Schritte des Verfolgten beinah gänzlich; immer leiser drangen die Laute seiner Flucht an meine Ohren. Einige Male glaubte ich bereits, ich hätte ihn verloren. Auch bestand die Gefahr, daß er in einen anderen Gang eingebogen war. Mein Gefühl aber sagte mir, daß er sich immer noch vor mir befand, irgendwo dort vorn, eingehüllt in die Finsternis der Keller, ein Schatten unter Schatten.
Weit, weit hinter mir verstummten Nicholas’ aufgeregte Schreie.
Ich rannte weiter, eine Hand um den Schwertgriff, die andere um die Fackel gekrallt. Die Flamme war bereits ziemlich geschrumpft; noch immer wußte ich nicht, wie lange ich geschlafen hatte, doch es mochten Stunden gewesen sein, in denen das Feuer allmählich an Kraft verlor.
Der Gang führte um eine Ecke und mündete in einen unterirdischen Saal. Er war nicht so hoch wie jene in den oberen Teilen des Schlosses, dafür jedoch um so weitläufiger. Die Decke wurde durch zahllose Säulen gestützt, die in weiten Abständen im Fackellicht glühten, die vorderen heller, die hinteren schwach. Rechts, links und an der Stirnseite waren keine Wände zu sehen, der Feuerschein reichte nicht weit genug.
Ich blieb stehen und horchte erneut. Die Schritte des anderen hatten aufgehört, doch das überraschte mich nicht. Er mochte überall in der umliegenden Dunkelheit lauern. Einen Moment lang erwog ich, ihn zu rufen, ihn aufzufordern, sich zum Duell zu stellen. Doch dann siegte der Hasenfuß in mir, und ich zog es vor, einen Kampf so weit wie möglich zu vermeiden.
Namen und Gesichter rasten durch mein Denken, während ich mich atemlos umsah. Wer von ihnen war es? Der knochige Adelfons Braumeister? Möglich, denn die Schritte hatten leicht geklungen, als lastete kaum Gewicht auf ihnen. Daher kam auch Gwen in Frage. Wie eine Mörderin war sie mir nicht erschienen; trotzdem ließ sich die Möglichkeit ihrer Schuld nicht ausschließen. Vielleicht hatte sie auch das Feuer im Gästehaus gelegt. Blieb nur noch Bosch. Der Maler war gewiß zu alt für lange Verfolgungsjagden, was der Grund sein mochte, weshalb sich mein Gegner jetzt im Dunkeln verbarg. Konnte er nicht mehr weiterlaufen? Dagegen sprach, daß Angelina in diesem Augenblick auf Bosch achtgeben sollte. Sie würde sich nicht von einem Mann, der bald sein siebzigstes Jahr erreicht haben mußte, überwältigen lassen. Dennoch durfte ich Bosch nicht aus meinen Überlegungen ausschließen.
Ein würdiger Gegner mit dem Schwert mochte mir von diesen dreien alleine Gwen sein. Ich wußte nicht, ob sie mit der Waffe umzugehen verstand, doch die nötige Flinkheit besaß sie ohne Zweifel. Jedoch, ein Kampf mit ihr auf Leben und Tod? Ein seltsame Vorstellung. Vielleicht tat ich ihr unrecht.
Vorsichtig wagte ich mich weiter in den Saal. Zu beiden Seiten glitten die vorderen Säulenreihen an mir vorüber, wie alte, mächtige Pappeln in einer stillen Allee. Obwohl sich meine Augen doch längst an die
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