Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
recht, Wagner, der Mann war der Traumvater. Mittlerweile bin ich mir dessen vollkommen sicher. Irgend etwas ist mit ihm geschehen, daß sein Äußeres verjüngt hat, und ich will wissen, was es war.«
Mein Atem stockte. »Dann wollt Ihr –«
»Ich werde ihn suchen und mit ihm sprechen«, erwiderte er nickend. »Heute nacht. Deshalb seid ihr beiden auf euch allein gestellt. Ich glaubte, ich könnte abwarten, bis er von selbst das Gespräch mit uns sucht, aber ich fürchte, dann werden alle bis auf einen nicht mehr leben. Ich muß ihm zuvorkommen, bevor sein Plan aufgeht. Und mir scheint fast, als wäre heute nacht die letzte Gelegenheit dazu.«
***
Zu meinem eigenen Erstaunen gelang es mir am Vormittag, einige Stunden Schlaf zu finden. Faustus übernahm so lange die Wache vor Nicholas’ Zelle, und ich löste ihn am Nachmittag ab. Währenddessen führte Faustus Angelina durch die Geheimgänge, zeigte ihr den Weg von unserem eigenen zu Boschs Zimmer und erklärte ihr, wie sie das Spiegelglas einen Spaltweit zur Seite schieben konnte, um den Maler unauffällig zu beobachten. Wie ich später erfuhr, war Faustus nach dieser Einweisung verschwunden. Er hatte sich aufgemacht, den Traumvater zu suchen, und zu meinem Erstaunen tat er dies nicht im Schloß, sondern in den verwilderten Gärten und im Wald.
Ich selbst kauerte unweit von Nicholas’ Kerkerzelle am Boden, lehnte mit dem Rücken an der kalten, feuchten Wand und horchte furchtsam auf jeden ungewohnten Laut. Wasser tropfte aus dem Gemäuer, Rattenkrallen schabten im Dunkeln über Stein, und fern in den einsamen Tiefen der unteren Keller fauchte ein geisterhafter Luftzug durch Kammern und Schächte.
Nicholas ahnte nicht, daß ich in seiner Nähe war. Einmal, gleich nachdem ich herabgestiegen war, war ich vor seine Zelle getreten und hatte an der gegenüberliegenden Mauer eine brennende Fackel befestigt. Er saß mit angezogenen Knien an der Rückwand der Kammer und beobachtete mich durch das Gitter, sagte aber kein Wort. Auch ich sprach ihn nicht an. Sodann ging ich zurück zur Treppe, stieg lautstark die Stufen hinauf und schlich sie anschließend geräuschlos wieder hinunter.
Nahe der Zellentür gab es eine Nische im Mauerwerk, höchstens zwei Schritte tief und einen breit. Einst mochten hier Waffen für den Fall einer Gefangenenrevolte aufbewahrt worden sein oder auch andere Kerkergeräte, an die ich nicht einmal denken mochte. Heute aber stand sie leer und war wie geschaffen für meine Zwecke. In ihr ließ ich mich ganz leise nieder und blickte vorsichtig hinaus auf den Gang. Von hier aus konnte ich auf den Korridor sehen, ohne selbst entdeckt zu werden. Zwar lagen auch die Zelle unseres Gefangenen und die Fackel außerhalb meines Blickfeldes, doch vertraute ich auf meine Ohren und war gewiß, daß ich bemerken würde, falls sich jemand näherte. Zudem beugte ich mich in regelmäßigen Abständen auf den Gang und warf einen verstohlenen Blick hinaus.
Obgleich oben noch Tageslicht herrschte – es war erst später Nachmittag –, machte das im Keller keinen Unterschied. In den weiten Gewölben und verschlungenen Fluren herrschte ewige Nacht. Zum ersten Mal seit langem fielen mir wieder die Schlangen ein, und schon war mir, als winde sich eine an meinem Rücken hinauf, doch es war nur ein Trugbild, ein Streich meiner Sinne. Ich war allein. Allein mit Nicholas.
Ich dachte an Angelina. Falls alles so vonstatten ging, wie Faustus es geplant hatte, hockte sie jetzt hinter Boschs Spiegel im Geheimgang und lugte durch einen Spalt in sein Zimmer. Ich erinnerte mich, daß er mich eingeladen hatte, das Bild zu betrachten, an dem er gerade arbeitete. Falls Bosch wirklich eine solche Berühmtheit war, wie mein Meister behauptet hatte, mochte das eine einmalige Gelegenheit sein. Ich würde dabei sein dürfen, wenn eines seiner Werke entstand. Nicht, daß mich die Kunst allzu sehr kümmerte. Doch es mochte ein Erlebnis sein, mit dem ich später prahlen konnte, in Wirtshäusern, an Fürstenhöfen, in Begleitung hübscher Damen.
Für den letzten Gedanken schämte ich mich. Noch immer haderte ich mit meinen Gefühlen für Angelina. Sofort kam Sorge um sie in mir auf. Sie war allein dort oben, eingezwängt in die Enge des geheimen Gangs. Was, wenn der Mörder sich an sie heranschlich, statt an Nicholas oder mich selbst? Er mußte jede Einzelheit des Gangsystems in den Wänden kennen, denn er benutzte es schon seit Tagen. Angelina dagegen kannte sich darin nicht
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