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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Finsternis gewöhnt haben mußten, konnte ich noch immer kein Ende der Halle ausmachen. Es dauerte lange, ehe ich endlich die andere Seite erreichte, und zu meiner Überraschung gab es dort keinen Ausgang. Ich hielt die Fackel am ausgestreckten Arm nach rechts, dann nach links, doch alles, was ich sah, war kahles, feuchtes Mauerwerk.
    Gerade wollte ich die Rückwand entlang gehen, um so früher oder später auf die seitliche Begrenzung des Saales zu stoßen, als mein Blick plötzlich eine Bewegung erfaßte. Nicht hinter einer der Säulen, wo sich zweifellos der Mörder verbarg, sondern direkt vor mir, unten am Boden.
    Es war eine Schlange. Und sie mochte mindestens zweimal so lang sein wie ich selbst. Aus ihrem Maul drang ein tückisches Zischen, und als sie drohend die Kiefer aufriß, da hätte ihr Gebiß mühelos meinen Kopf umfangen können, so weit und hungrig sah es aus.
    Ich wußte nichts über Schlangen, nicht, ob diese hier giftig war und wie schnell sie mit ihrem Schädel zustoßen konnte. Es war wohl dieser mangelnde Respekt vor ihrer wahren Gefährlichkeit, der mich das einzig Richtige tun ließ: Ich sprang zurück. Zwei, drei große Sätze brachten mich aus der Reichweite der Bestie – und trugen mich vom Regen in die Traufe.
    Denn dort, wo ich nun zum Stehen kam, erst erleichtert, dann entsetzt, tummelte sich ein ganzes Nest von Schlangen. Wie viele es waren, ließ sich nicht erkennen: Ihre Leiber wanden sich über-und untereinander, wie ein Haufen alter Seile und Taue, in die unvermittelt Leben gefahren war. Ihre fauchenden Mäuler wandten sich mir in einer einzigen, zuckenden Bewegung zu. Nun begriff ich, wie die Einheimischen auf die Legende vom Schlangenkönig gekommen waren, und es wunderte mich nicht mehr, daß der Gedanke an diese Kreaturen sie mit Angst und Schrecken erfüllte.
    Für eine Weile vergaß ich die Jagd auf den Mörder. Die Heimtücke, mit der er mich in diese Falle gelockt hatte, und die Klugheit, mit der er sich die angestammten Bewohner der Ruine zunutze machte, rangen mir fast etwas wie Anerkennung ab. Er hatte die Tage und Nächte seines Versteckspiels schlau genutzt, indem er die Gegebenheiten im Schloß gründlich erforscht hatte. Es war keineswegs Zufall, daß er mich ausgerechnet in diesen Saal geführt hatte.
    Je länger ich um mich in die Dunkelheit blickte, desto mehr Schlangen entdeckte ich. Sie waren in der Tat überall, und nun schoben sie sich auch über den Weg, den ich gekommen war; ungemein schnell schloß sich die Schneise zwischen den Säulen unter einer wimmelnden Flut von Schlangenleibern.
    (Bevor Ihr, tadelnder Leser, meine Ängste verlacht oder Euch naserümpfend von diesen Seiten abwendet, will ich Euch versichern, daß ich heute freilich weiß, daß die wenigsten unserer heimischen Schlangentiere gefährlich sind. Damals jedoch war mir dies keineswegs bekannt, und mir gefällt die wohltuende Vorstellung, daß wohl auch derjenige, der mich in diesen Keller lockte, dies nicht wußte. Vielleicht glaubte er, er könnte mich auf diese Weise endgültig loswerden, zuckend und spuckend im Fieberwahn der Schlangenbisse. Ha, was für ein Dummkopf!)
    Ich will meine Bemühungen, den Tieren zu entgehen, nicht in unnötiger Breite schildern. Erwähnt sei lediglich, daß es eine gehörige Weile in Anspruch nahm, ehe ich hüpfend und springend, auf einem und auf beiden Beinen, über sie hinwegsetzen konnte. Tatsächlich dauerte dieses schmachvolle Spektakel so lange an, daß es schließlich außer Zweifel stand, daß der Mörder derweil das Weite gesucht hatte. In der Tat, er war entkommen.
    Wiewohl, ich hatte gerade den Saal verlassen, als mir klar wurde, daß es ihm nie ums Entkommen gegangen war. Er hatte mich immer nur fortlocken wollen. Fort von Nicholas’ Zelle.
    Ich rannte los, mit letzter Kraft, so schnell ich nur konnte. Den Gang hinunter, um die Ecke und dem Zellentrakt entgegen. Die Fackel war nun fast völlig niedergebrannt.
    Statt dessen mußte nun irgendwo vor mir ein Feuer brennen. Ich konnte es riechen. Und jetzt erkannte ich auch einen hellen Schein in der Ferne.
    Die ersten Gittertüren, rechts und links von mir. Ich hetzte weiter. Rief Nicholas’ Namen.
    Er gab keine Antwort.
    Kurz darauf erfuhr ich den Grund.
    In der Zelle tobte ein Feuer. Nicholas Erasmo stand in Flammen, er bewegte sich nicht mehr. Zwischen den Lohen erkannte ich die kurzen, kräftigen Beine, seine untersetzte Statur. Der Körper brannte lichterloh. Irgend jemand mußte ihn mit

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