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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Münzwert der Krone war von Bedeutung.
    Vieles wurde mir plötzlich klar. Der Traumvater hatte in den Botschaften an seine Schüler in voller Absicht die Krone erwähnt. Er wußte, daß zumindest einer unter den Teilnehmern der Chymischen Hochzeit sein würde, der alles tun würde, um in ihren Besitz zu gelangen. Es gab keine Beeinflussung durch Träume. Der Vater hatte nur das Gold in Aussicht stellen müssen, alles andere geschah wie von selbst: Einer tötete die übrigen Männer und Frauen, bis schließlich nur noch zwei am Leben waren. Zwischen ihnen, dem Mörder und seinem letzten Opfer, sollte der letzte Kampf entbrennen. Und wer immer das Duell für sich entscheiden mochte, er war würdig, die Nachfolge des Traumvaters anzutreten, ob mit oder ohne Schlangenkrone, ob mit oder gegen seinen Willen. Der Mörder mochte noch so viele Leichen in den Ruinen aufhäufen – am Ende blieb doch der Traumvater Sieger.
    Niedergeschlagen von dieser Einsicht machte ich mich auf, Angelina zu finden. Wenn ich keinen der Spiegel zerschlagen konnte, mußte ich einen Zugang finden, der bereits offenstand. In Frage kam allein jener im Raum neben unserem Zimmer. Weder Faustus noch ich hatten ihn geschlossen, nachdem wir die Leiche des Mädchens herausgetragen hatten. Ich nahm an, daß auch Angelina diesen Weg genommen hatte, um hinter den Spiegel des Malers zu gelangen.
    Nachdem ich ins zweite Stockwerk geeilt war, fand ich den Zugang tatsächlich offen. Ich packte Schwert und Fackel, dann wagte ich den Einstieg.
    Zwischen den Wänden roch es widerwärtig. An den Mauern prangten immer noch die blutigen Pfeile, mit denen uns der Mörder zur Leiche des Zwillings geführt hatte. Fette, glänzende Fliegen krochen satt und schwerfällig über die getrocknete Kruste; sie flogen nicht einmal auf, als ich an ihnen vorüberging. Angeekelt nahm ich mir die Zeit, sie mit der Fackel zu versengen.
    Schon nach wenigen Schritten bog ich um die erste Ecke und stieg kurz darauf durch eine Öffnung ins tieferliegende Stockwerk. Angelina konnte jetzt nicht mehr weit sein. Da ich gezwungen war, immer wieder Zimmertüren durch Überklettern zu umgehen, dauerte es eine Weile, bis ich mich endlich der letzten Ecke näherte. Falls ich mich beim Abzählen der Räume nicht getäuscht hatte, mußte Angelina gleich dahinter warten.
    Im selben Augenblick vernahm ich Schritte. Doch sie kamen nicht aus der Richtung, in der ich den Borgia-Engel vermutet hatte. Die Laute ertönten von hinten. Besser gesagt: von hinten und von unten. Ich fuhr herum und starrte angestrengt ins Zwielicht. Wer immer dort durch die Geheimgänge schlich, er mußte sich im Erdgeschoß befinden. Zudem kam er näher. Gleich würde er auf die nächste Zimmertür stoßen und zu mir heraufklettern. Spätestens dann würde ich sehen können, wer es war, der dort durch das Labyrinth schlich. Und diesmal würde das Fackellicht weit genug reichen, um sein Gesicht zu erkennen. Plötzlich war ich sicher, daß meine Begegnung mit dem Mörder bevorstand.
    Ich brachte das Schwert in Anschlag, während ich weiter auf die Schritte horchte. Sie kamen näher, immer näher. Bald schon mußte der Unbekannte die Leiter erklimmen. Sein Kopf würde sich durch die Öffnung schieben, ich würde ausholen und –
    Eine Hand legte sich von hinten auf meine Schulter.
    Im letzten Moment unterdrückte ich einen Aufschrei und fuhr herum. Meine Klinge wirbelte durch die Dunkelheit. Um Haaresbreite verfehlte sie Angelinas zarte Hüfte und schabte mit der Spitze an der Wand entlang.
    Erschrocken, doch zugleich erleichtert, sie wohlauf zu sehen, gab ich ihr mit einem Wink zu verstehen, sich nicht zu bewegen. Ich bedeutete ihr zu horchen, und so standen wir schließlich da, durch die Enge des Geheimgangs nah aneinandergepreßt, lauschend in die Dunkelheit.
    Die Schritte hatten aufgehört.
    Wer immer im Stockwerk unter uns durch den Gang geschlichen war, er war stehengeblieben. Das Reiben der Schwertspitze auf Stein mußte ihn gewarnt haben.
    »Er ist da unten«, flüsterte ich Angelina ins Ohr.
    Sie nickte, huschte völlig lautlos um die Ecke und kam einen Augenblick später mit dem Schwert in der Hand zurück. Sie nickte erneut, als Zeichen, daß sie bereit war.
    Der Gang zwischen den Wänden war zu schmal, als daß wir nebeneinander Platz gefunden hätten, deshalb ging ich voran. Angelina blieb dicht hinter mir. Die Fackel hatte ich am Boden abgelegt, damit das Licht unsere Bewegungen nicht verriet. Zwei Schritte vor uns

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