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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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klaffte die erste Öffnung im Boden, wo der darunterliegende Gang vor einer Leiter endete. Ein Stück dahinter befand sich eine zweite Öffnung; dort setzte sich der schmale Korridor fort. Wollte der Mörder die Türbarriere im Erdgeschoß umgehen, mußte er durch das eine Loch zu uns heraufklettern und durch das andere wieder herabsteigen. Jetzt aber schien er abzuwarten.
    Leise setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich hielt den Atem an, um den Gegner kein zweites Mal zu warnen. Das einzige Ergebnis war, daß meine Lungen kurz darauf noch begieriger nach Luft verlangten und mein Atem lauter war als zuvor.
    Vorsichtig stiegen wir über die erste Bodenöffnung hinweg, während sich unsere Schatten über die zweite schoben. Spätestens jetzt mußte der andere bemerken, daß wir uns ihm näherten. Und tatsächlich: Im selben Augenblick war im Stockwerk unter uns das Knarren von Bodenbrettern zu hören, dann eilige Schritte.
    »Er flieht!« zischte ich Angelina zu. Hastig machte ich einen Satz nach vorne und blickte durch das Loch in die Tiefe. Unten brannte kein Feuer. Wer immer es gewesen war, mußte sich gut genug im Labyrinth der Geheimgänge auskennen, um sich im Dunkeln hineinzuwagen. Seine Schritte entfernten sich mit großer Geschwindigkeit, und ehe ich am unteren Ende der Leiter angekommen war, waren die Laute verklungen. Entweder war er erneut stehengeblieben, oder aber er war endgültig fort. Beides ließ es nicht ratsam erscheinen, die Verfolgung aufzunehmen, denn es mochte durchaus sein, daß unser Gegner uns in eine Falle locken und hinterrücks niedermachen wollte.
    Angelina muß ähnliche Gedanken gehegt haben, denn sie stieg gar nicht erst die Leiter herab. Während ich wieder nach oben kletterte, fluchte ich still vor mich hin. Durch seine Vertrautheit mit den Geheimnissen dieses Gebäudes war uns der Mörder vielfach überlegen. Er mußte die Gänge hinter den Wänden vom ersten Tag an erkundet haben.
    »Wo ist Bosch?« fragte ich flüsternd, als ich mit Angelina zurück zur Fackel schlich und sie aufhob.
    Als Antwort deutete sie um die Ecke.
    »In seinem Zimmer?«
    Sie nickte.
    »War er dort die ganz Zeit über?«
    Noch ein Nicken.
    Wir traten leise an die Rückseite des Spiegels. Angelina hatte die Platte ein wenig zur Seite geschoben und so einen kaum fingerbreiten Spalt geschaffen, schmal genug, um von der anderen Seite aus nicht aufzufallen.
    Ich blinzelte mit einem Auge hindurch und sah Bosch, wie er mit dem Rücken zu mir vor einer großen Leinwand stand, in einer Hand den Pinsel, in der anderen eine Palette. Das Gemälde war in dunklen Rot-und Brauntönen gehalten, mit vereinzelten hellen Formen gesprenkelt. Ich konnte aus der Entfernung nicht erkennen, welcher Art das Motiv war, doch schien es sich um Menschen zu handeln, zahllose Menschen in einer düsteren Felslandschaft.
    Ich wandte mich wieder Angelina zu. Im zuckenden Fackellicht sah es aus, als bewegten sich die Narben auf ihrem Gesicht. Ihre herrlichen Augen blickten mich fragend an. Ich zog sie einige Schritte zur Seite und berichtete ihr flüsternd, was geschehen war, verschwieg jedoch wohlweislich, daß ich während meiner Wache eingeschlafen war. Als ich meine Jagd durch den Keller schilderte, ergriff sie meine Hand und drückte sie fest. Nicholas’ Tod schien sie nicht im geringsten zu bekümmern, doch die scheinbare Gleichgültigkeit mochte auch von der Starre ihrer Züge rühren. Obgleich ich sie nun schon seit Wochen kannte, war es immer noch schwierig, ihre Gedanken zu erraten. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen bot ihr Gesicht keinen Hinweis auf das, was in ihrem Kopf vorging.
    Nachdem ich geendet hatte, deutete sie auf die Rückseite des Spiegels.
    Ich verstand. »Du meinst, wir sollten Bosch davon erzählen?« vergewisserte ich mich.
    Angelina nickte.
    »Vielleicht hast du recht«, sagte ich nachdenklich. »Wenn er die ganze Nacht in seinem Zimmer war, kann zumindest er nicht der Mörder sein. Es ist nur recht und billig, daß er die Wahrheit erfährt.«
    Wir kamen überein, während der verbleibenden Zeit im Schloß nicht mehr voneinander zu weichen. Ob der Mörder es mit uns beiden, Seite an Seite, ebenso leichtfertig aufnehmen würde wie mit einem einzelnen, blieb abzuwarten. Bei diesen Gedanken packte mich neuer Mut. Vielleicht war unsere Misere doch nicht völlig ausweglos. Ich faßte neue Hoffnung und fühlte mich fast beschwingt, als wir uns auf den Rückweg zum Ausgang des Labyrinths machten.
    Angelina stieg

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