Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
als erste die Leiter zum zweiten Stock hinauf und hatte wachsam Kopf und Fackel durch die Öffnung geschoben, als ihr Körper plötzlich erbebte. Erst glaubte ich, eine Waffe hätte sie getroffen, und packte schon ihre Waden, um sie nach unten in Sicherheit zu ziehen. Sie aber strampelte sich los und kletterte blitzschnell die Sprossen hinauf. Nicht ahnend, was uns dort erwarten mochte, folgte ich ihr so schnell ich konnte.
Oben angekommen sah ich gerade noch, wie Angelina samt Fackel hinter der nächsten Ecke verschwand. Ich rief ihren Namen, sie aber rannte weiter. Verwirrt lief ich hinter ihr her, stets in der bangen Befürchtung, im Dunkeln in eines der Löcher im Boden zu treten.
Als ich um die Ecke bog, schickte Angelina sich an, eine Leiter zum nächsten Stockwerk zu erklimmen. Aber über uns lag nur noch der Dachboden. Mit Schrecken dachte ich an meinen ersten Ausflug mit Bosch nach dort oben.
Ich stürmte vorwärts und hielt sie am Arm zurück. Sie fuhr herum und deutete mit fahrigen Handbewegungen an den Sprossen hinauf. Da erst bemerkte ich, daß Blut über ihre schorfige Stirn rann. Es verteilte sich in den Rissen und Schluchten ihrer verbrannten Haut wie ein weitverzweigtes Geäst.
Sorgenvoll wollte ich mich vorbeugen, um die Wunde zu untersuchen, doch sie drängte mich ungeduldig zurück. Derjenige, der ihr die Verletzung zugefügt hatte, mußte hinauf auf den Speicher geklettert sein. Angelina hatte recht; vielleicht konnten wir nun nachholen, was uns vorhin mißlungen war: den Mörder aufspüren und stellen. Zu zweit brauchten wir den Kampf mit ihm nicht zu scheuen, ganz gleich wer es sein mochte.
Ich schob Angelina zur Seite, im Wissen, daß sie nicht protestieren konnte, nahm ihr die Fackel aus der Hand und kletterte als erster nach oben. Als ich Kopf und Schulter durch die Luke schob, wappnete ich mich gegen einen Schlag oder Tritt, wie er Angelina getroffen hatte. Doch der erwartete Schmerz blieb aus. Der Flüchtige war bereits weitergelaufen. Nun hörte ich auch seine Schritte, nicht einmal weit von mir.
Ich zog mich über die Kante und reichte Angelina meine Hand. Dann sahen wir uns um.
Wir standen in einer kleinen Kammer, die keinerlei Ähnlichkeit mit den beengenden Korridoren zwischen den Wänden aufwies. Mir fiel wieder ein, daß die Räume und Gänge des Dachbodens allesamt aus Holz bestanden. Möglicherweise hatte man es nicht für nötig erachtet, das geheime Labyrinth auch hier oben fortzusetzen. Fest stand jedenfalls: Die Kammer, in der wir uns nun befanden, besaß eine gewöhnliche Tür und war weder versteckt noch geheim.
Vorsichtig näherten wir uns dem Durchgang. Er führte hinaus auf einen Flur. Möglich, daß es derselbe war, den Bosch und ich erkundet hatten. Die Schritte ertönten von rechts, entfernten sich immer schneller.
Es bedurfte keiner Verständigung zwischen Angelina und mir. Wir wußten, was zu tun war. Gleichzeitig liefen wir los, den Gang hinab, während die knisternden Flammen der Fackel riesige Schatten auf die Wände zauberten. Mehrere Türen führten in weitere Kammern, und das vorbeihuschende Licht schuf in der Finsternis dahinter zuckende Bewegung. Immer wieder sah ich mich erschrocken zur Seite um, wenn ich glaubte, jemanden entdeckt zu haben, nur eine Regung am Rande des Blickfelds. Doch stets erwies sich dies von neuem als Täuschung, denn da war nichts als Dunkelheit, die vor dem Fackelschein in abgelegene Ecken entfloh.
Er war immer noch vor uns, ja, das waren seine Schritte. Ich lief schneller, doch Angelina zog mühelos an mir vorüber, trotz ihrer Wunde. Mein einstiger Oheim, Bruder Martinus, hatte nie Wert auf körperliche Ertüchtigung gelegt. Ihm hatte ich es zu verdanken, daß ich im Aufspüren von Bibelzitaten weit schneller war als auf den Füßen. Doch wer mochte dem braven Mann das verdenken? Er hatte sein Leben der Reform alter Werte gewidmet, und wer hätte damals ahnen können, daß ihm ein wenig körperliches Geschick noch manches Mal zugute gekommen wäre – spätestens, als er der katholischen Kirche den Kampf ansagte und aus Bruder Martinus Martin Luther wurde.
Wir erreichten eine Biegung, und dort wurde mir klar, daß dies keineswegs derselbe Gang war, den ich bereits erforscht hatte. Der andere war schnurgerade vom Eingang des Dachbodens bis zu seinem Ende verlaufen. Dieser aber bog nach rechts und führte in eine Art Trockenspeicher. Stricke, die sich von Balken zu Balken des Dachstuhls spannten, mußten einst von emsigen
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