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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Dienstmädchenhänden zum Trocknen der Wäsche benutzt worden sein.
    Eine offene Luke führte hinaus aufs Dach. Sterne glänzten uns durch das samtschwarze Rechteck entgegen.
    Da endlich wurde mir klar, welchen Fehler wir während der ganzen Zeit begangen hatten. Wir hatten immer angenommen, der Mörder verstecke sich irgendwo im Inneren des Schlosses.
    In Wahrheit verkroch er sich auf dem Schloß.
    Angelina und ich blieben stehen. Wir lauschten. Jetzt war nichts mehr zu hören, weder Schritte, noch andere verräterische Laute. Mit einem Mal war es totenstill.
    Falls der Flüchtige wirklich aufs Dach geklettert war, hätten wir ihn dann nicht hören müssen?
    Irgend etwas stimmte nicht.
    Weshalb herrschte plötzlich solche Ruhe? Es war eine träge, dämpfende Art von Stille, ein beinahe fühlbares Loch im Gefüge der Natur. Angelina mußte es ebenso empfinden wie ich selbst. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Selbst ihr Auftreten schien mir merkwürdig weich und samtig.
    Zustände wie dieser stellen sich ein, wenn hohe Anspannung jede Empfindung trübt. Oder wenn ein sechster Sinn uns warnen will.
    Plötzlich war jemand hinter mir. Ich spürte den Luftzug von etwas im Rücken, das mich nur knapp verfehlte und statt dessen gegen die Fackel krachte. Der Aufprall riß sie aus meiner Hand und schleuderte sie im hohen Bogen davon. Funkensprühend stürzte sie in den engen Winkel, wo die Dachschräge auf den Fußboden stieß. Flammen züngelten nach trockenem Holz.
    Gleichzeitig raste ein Schemen an mir vorüber, eine Gestalt, die ich in der plötzlichen Dunkelheit nicht erkennen konnte. Sie sprang rechts an mir vorbei, meine Hand zuckte vor und packte weiten, leichten Stoff. Die Gestalt rannte weiter, der Stoff riß, und ein Fetzen blieb in meinen Fingern zurück. Ehe Angelina oder ich unseren Schrecken überwinden konnten, war der Unbekannte schon an der Dachluke und hatte sich behende hinaufgezogen. Dann war er fort, nur das Schaben seiner Füße auf glatten Dachziegeln war noch zu hören.
    Während ich noch zögerte, hetzte Angelina bereits los und kletterte durch die Luke ins Freie. Einen Moment lang war ich hin-und hergerissen zwischen dem Drang ihr zu folgen und der Notwendigkeit, die Fackel aufzuheben. Ich entschied mich widerwillig für letzteres, nahm sie vom Boden und löschte eilig die Funken, die auf das trockene Dachgebälk gesprungen waren. Das letzte, was wir jetzt noch brauchten, war eine Feuersbrunst im Schloß; wenngleich, so überlegte ich, der Mörder samt Dach ein Raub der Flammen geworden wäre. Dann aber hätten wir vielleicht nie erfahren, wer es war.
    Ich rannte zur Luke und kletterte hinaus. Ein merkwürdiges Gefühl, alles bereits erlebt zu haben, beschlich mich. Natürlich, das Dach des Gästehauses! Auch da war Angelina bereits über die Giebel geklettert, während ich mich durch die Luke zog. Ganz unvermittelt hatte ich panische Angst um sie. Mochte sie noch so flink im Umgang mit ihrer Waffe sein – das Dach war glatt und gefährlich, ihr Gegner unberechenbar. Allein der Gedanke, daß ihr etwas zustoßen könnte, schnürte mir den Atem ab. Mit einem Mal ging es nicht mehr darum, den Mörder zu stellen; ich wollte nur noch bei Angelina sein.
    Die Ziegeln waren weit rutschiger, als ich befürchtet hatte. Das Moos wuchs fingerdick, und die Schräge, die sich vor mir nach oben erstreckte, sah im Mondlicht aus, als sei sie mit schwarzem Pelz bewachsen. Angelina kletterte flink darüber hinweg und nahm immer wieder ihre Hände zur Hilfe, um nicht abzugleiten. Das Schwert hielt sie trotz allem festumklammert. Sie hatte bereits gehörigen Vorsprung, sieben oder acht Schritte trennten uns voneinander.
    Der Schatten, den sie verfolgte, war nirgends zu sehen. Er mußte bereits über den Dachfirst geklettert sein und auf der anderen Seite nach unten rutschen. Dabei rief ich mir erneut die verwinkelte Form des Schloßdaches ins Gedächtnis. Von unten waren nur die äußeren Giebel zu erkennen gewesen, doch sie hatten ausgereicht, sich vorzustellen, daß sich dahinter eine regelrechte Landschaft aus schindelgedecktem Auf und Ab, aus Vorsprüngen, kleinen Türmen, Abgründen, Steinhöfen und Ziegelfeldern erstreckte. Ein besseres Versteck mochte es im ganzen Schloß nicht geben. Jemand, der sich hier oben auskannte, durfte keine Schwierigkeiten haben, jeden Verfolger in die Irre zu führen.
    Angelina hatte das obere Ende der Schräge erreicht. Mit beiden Händen zog sie sich hoch und kam

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