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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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rittlings zum Sitzen. Angestrengt schaute sie auf die andere Seite hinab, blickte dann zu mir. Ganz langsam, Hände und Füße im Wettstreit mit dem freien Fall, kämpfte ich mich über den schlüpfrigen Moosteppich nach oben. Zuletzt reichte sie mir ihre Hand und half mir hinauf.
    Zumindest waren wir jetzt wieder zusammen. Damals war ich naiv genug, um anzunehmen, daß uns dies mancher Sorge enthob.
    Beim bevorstehenden Abstieg auf der anderen Seite war es freilich von geringem Nutzen. Vom Dachfirst, auf dem wir saßen, hatten wir eine halbwegs gute Sicht über einen Teil der umliegenden Schrägen und Giebel. Es war kein ermutigender Anblick. Am Schlimmsten von allem war, daß sich die Gestalt, der wir gefolgt waren, offenbar in Luft aufgelöst hatte. Sie war nirgends zu sehen.
    Angelina stieß mich mit dem Ellbogen an und zeigte auf einen runden Aufbau, der ganz in der Nähe aus einem ebenen Feld aus Schindeln wuchs.
    »Dahinter versteckt er sich?« fragte ich zweifelnd, denn der niedrige Turm war ein ordentliches Stück entfernt, zu weit für die kurze Zeit der Flucht, wie mir schien.
    Doch Angelina nickte. Das wiederum bedeutete, daß unser Gegner mit den Gegebenheiten des Daches besser vertraut war, als ich befürchtet hatte. Er bewegte sich weit sicherer als wir.
    Trotzdem blieb uns nichts anderes übrig, als uns auf sein erneutes Versteckspiel einzulassen. Ich sandte ein Stoßgebet zum Sternenhimmel, daß uns der Mörder nicht auf ein morsches Stück Dach locken wollte, das unter unseren Füßen zusammenbrechen würde. Letztlich aber war es unmöglich, jede Gefahr zu berücksichtigen. Wir mußten weiter. Wer wußte schon, wann wir das nächste Mal so nah an ihn herankommen würden.
    Schlitternd rutschten wir in die Tiefe, überquerten mit vorsichtigen Schritten ein flaches Stück Dach, kletterten einen Vorsprung hinauf und erreichten schließlich die Schieferebene. Aus der Nähe war sie weit größer, als ich vermutet hatte. Der niedrige Turmaufbau, hinter dem der Mörder Schutz gesucht hatte, lag am anderen Ende der Fläche.
    Der Mond übergoß die Dächer mit eisigem Weiß. Noch einige Tage, und er würde voll und rund am Himmel stehen. Die Fackel, die ich immer noch tapfer in der Linken hielt, war damit überflüssig. Ich warf sie zu Boden und löschte sie durch ein paar gezielte Tritte. Hier oben war sie nur hinderlich, wenngleich mir klar war, daß wir das Feuer spätestens beim Abstieg durchs dunkle Haus schmerzlich missen würden.
    Wir überquerten das Steinfeld mit eiligen Schritten, bis wir die Rundung des Turms erreichten. Ein Turm war es eigentlich nur, wenn man ihm die Höhe des gesamten Hauses zugutehielt; der Aufbau selbst ragte höchstens drei Mannslängen aus der verschachtelten Krone des Schlosses. Es gab eine ganze Reihe solcher Auswüchse, einige davon hatte ich von innen bereits kennengelernt. Ihre Treppen endeten blind und sinnlos unterm Dachstuhl. Mochte der Teufel wissen, was sich der Erbauer der Anlage dabei gedacht hatte.
    Wir entschieden wortlos, uns zu trennen. Angelina würde links an der Mauer entlanggehen, ich rechts. Dadurch nahmen wir unseren Gegner von zwei Seiten in die Zange. Vorausgesetzt, er versteckte sich wirklich auf der anderen Seite des Turmes und war nicht durch eine neuerliche List entkommen. Stillschweigend bezweifelte ich, daß er tatenlos abwarten würde, bis wir seiner habhaft wurden. Er war nicht lebensmüde, und er war keinesfalls dumm. Ihn zu unterschätzen wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen – ein tödlicher obendrein.
    Angelina und ich wechselten einen letzten Blick, bevor wir in verschiedene Richtungen gingen. Da war etwas in ihren Augen, ein seltsamer Glanz, den ich nicht deuten konnte. Wärme lag darin, Zuneigung vielleicht. Was immer es sein mochte, ich hoffte inständig, daß es sie nicht ablenken würde von dem, was sie am besten konnte: sich verteidigen.
    Meine Schwertspitze wies nach vorne auf den unsichtbaren Gegner, während ich langsam um die Rundung der Mauer schlich. Dabei hielt ich mich eng an der Wand. Eine unerträgliche Spannung ergriff Besitz von mir. Gleich würde ich endlich sehen, wer es war, würde endlich erfahren, wer all die Toten auf dem Gewissen hatte. Die Aufregung, aber auch meine Angst, nahm mir fast den Atem.
    Ich hatte ein Drittel des Turmes umrundet, und noch immer war unser Gegner nirgends zu sehen. Auf der anderen Seite setzte sich das Gebirge der Schieferschrägen und Dachfirste fort, doch gleich hinter dem Turm

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