Die neue Lustschule
Chance, innere Spannungen zu lindern und abzuführen und dadurch unmittelbar gesundheitsfördernd zu wirken. Sexualität kann eine «Medizin» sein, die richtig gut schmeckt.
• Jeder hat ein Recht auf Sexualität.
• Jeder lebt
seine
Sexualität. (Hemmungen, Einseitigkeiten oder Fehlentwicklungen sind nur insofern relevant, als der Betroffene darunter leidet oder andere dadurch leiden macht.)
• Die Sexualität entwickelt sich mit der Persönlichkeit und verändert sich mit den Lebensumständen.
• In partnerschaftlichen Beziehungen sind unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse die Regel.
• Jeder muss Verantwortung für seine eigenen sexuellen Bedürfnisse übernehmen. In Partnerschaften bedeutet das: eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, ihre Bedeutung zu reflektieren, sie innerhalb der Beziehung zu kommunizieren und darüber entsprechend zu verhandeln.
• Die eigenen sexuellen Grenzen bedürfen eines klaren Neins; kein anderer kann sie kennen.
Auf dieser Grundlage kann jeder dazu beitragen, Sexualität zum Therapeutikum zu machen. Dies funktioniert natürlich nur bei demjenigen, der seine Situation wirklich verbessern will. Das zentrale Handikap bleibt die Tatsache, dass viele Sekundärprobleme und -störungen (wie z.B. Partnerschafts- und sexuelle Konflikte) brauchen, um von Primärproblemen (entwicklungspsychologisch bedingten frühen Verletzungen und Defiziten) abzulenken und sie zu überdecken. Sekundärprobleme sind immer das kleinere Übel. An der Intensität, mit der sich Menschen die Hölle heißmachen, sich hassen und verachten, lässt sich in etwa erahnen, wie groß ihr primäres Elend sein muss. Es gibt keinen anderen Grund, sich das gegenwärtige Leben in eigener Verantwortung so schwer zu machen, als das mühsam verdrängte und zur Entladung und Erkenntnis drängende Primärleid unter Kontrolle zu halten und ersatzweise im Hier und Jetzt abzureagieren.Das aber hat Suchtcharakter. Da sie nicht wirklich zur Abfuhr frühen Schmerzes und narzisstischer Wut führen kann, muss die Ventilfunktion ständig benutzt und wiederholt werden. (Ich nenne das: «Ich halte mir mein Schwein!»)
Wer von diesen Zusammenhängen jedoch, und sei es nur ein wenig, weiß und seine Situation verbessern will, kann seine sexuelle Partnerschaft gut dafür einsetzen. Jede zur Entspannung führende Lustwelle und jede gelingende partnerschaftliche Absprache zur hilfreichen Unterstützung der eigenen Lust dient der Gesundheit und der Liebe. Es lohnt sich also, den sexuellen «Heilungsweg» zu versuchen. Sich selbst wahrzunehmen, die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse zu kommunizieren und zu verhandeln, sind die wesentlichen Ingredienzien von Beziehungskultur. Im Dienste der Lust können diese Fähigkeiten unmittelbare Belohnung erfahren und sichern dadurch Lebensfreude und Friedfertigkeit.
Mit einem vertieften Verständnis für die frühen Entwicklungsbedingungen des Menschen, das uns die Säuglings- und Kleinkindforschung sowie die Neurobiologie ermöglicht haben, musste auch die diagnostische Einschätzung psychosozialer Probleme und des Verhaltens von Menschen erweitert werden. Wenn früher sogenannte Psychopathien, Charakterstörungen und Persönlichkeitsstörungen als relativ seltene und schwere Erkrankungen galten, so können und müssen heute die sogenannten Frühstörungsanteile in fast jedem Menschen aufgefunden werden, um einen wirklichen Zugang zu Beschwerden, Erkrankungen und Verhaltensweisen zu finden. Dabei ist die Bewertung eines «zeitgemäßen» oder durchschnittlichen Verhaltens deshalb besonders problematisch, weil eine mehrheitliche Verhaltenstendenz als «normal» erscheinen und doch von höchst abnormen, unbewussten seelischen Defiziten und Konflikten getragen seinkann, die eine ganze Gesellschaftspathologie ausgestalten und erst nach einer kumulierten Krise (z.B. Krieg) aus einer ernüchterten Perspektive als destruktive Folgen früher Not erkannt werden können.
Nach mehreren Jahrzehnten psychotherapeutischer Berufserfahrung muss ich feststellen, dass die frühen kindlichen Verletzungen, die durch Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen verursacht sind, später nicht mehr wirklich zu heilen sind. Deshalb wird immer die Prävention gegenüber der Therapie Vorrang haben müssen. Zu den therapeutischen Möglichkeiten zählt jedoch, die Folgen von Frühstörungen zu lindern, die Fähigkeit zu erwerben, zu den Ursachen bewusster auf Distanz zu gehen und mit ihren belastenden
Weitere Kostenlose Bücher