Die neue Menschheit
Wahnsinnsangriff hatte er keinen. Er wußte selbst nicht, daß er sich auf die Überraschungstaktik verließ.
Er stach mit seinem Zweig, schwang den Stein und traf. Die überraschte Raubkatze wich von ihrem Opfer zurück, fauchte und streifte ihn mit den Krallen.
Er schlug auf sie ein, hämmerte, trat mit den Füßen. Er verspürte weder Angst noch Schmerzen. Nur der Tod hätte ihn aufhalten können. Er würde das Tier in Stücke zerreißen!
Die zutiefst erstaunte Großkatze zögerte, wirbelte herum und schoß davon. Sie war nicht besiegt, sie war lediglich völlig verwirrt. In ihrem ganzen Leben war sie noch nicht auf diese Weise angegriffen worden.
Er rannte ihr nach, schrie seinen Wahnsinn hinaus. Er hielt erst an, als er Luft holen mußte. Am ganzen Leib bebend, stand er da. Die rote Wut wich. Benommen erkannte er, daß er nur noch lebt, weil er nicht schnell genug gewesen war. Hätte die Raubkatze sich gezwungen gesehen, sich ihm zu stellen … Nun, darüber wollte er nicht nachdenken. Aber er hatte dem Tier eine Lehre erteilt. Das nächstemal würde es sich vielleicht überlegen, ob es sich auf seine Leute stürzen sollte … Er knurrte befriedigt.
Allmählich kehrte seine Vernunft zurück. Er erinnerte sich, weshalb er das Tier überhaupt angegriffen hatte. Dieser Mann dort … Er kehrte zu ihm zurück. Er lag zuckend auf nackter Erde. Er war arg zugerichtet, blutig. Ein Auge war zerschmettert …
Er warf seinen Zweig und den Stein von sich und hob das schlaffe Bündel, das ein Mann gewesen war, auf die Schulter. Durch die blendende Helligkeit trug er ihn zurück in den grünen Hain.
Er sah, daß seine Leute sich auf die Bäume verkrochen hatten. Ein bißchen Verstand hatten sie also doch.
Er brachte den Blutenden zu dem einzigen heilenden Ort, den er kannte. Er wusch den Verwundeten im kühlen Wasser. Der Bach färbte sich rot. Der Mann ächzte und stöhnte. Er hob ihn ans Ufer und legte ihn dort ins Gras. Er strich mit der Hand über sein Haar und wollte ihm den Willen geben, weiterzuleben.
Mehr Blut quoll. Der Mann erbrach sich. Dann war nichts mehr. Der Mann hatte zu atmen aufgehört.
Er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte versagt. Er hatte verloren. Er fühlte sich elend.
Er kauerte neben dem Mann und hoffte auf eine Eingebung. Vergebens. Er war nicht fähig zu denken. Der Mann wurde kalt, und als er ihn bewegen wollte, fühlte er sich steif und hart an. Er ließ ihn liegen. Er wußte nicht, was er sonst tun sollte.
Müde schleppte er sich zu einem Baum. Er fühlte sich schwindelig. Er zog sich zu den Ästen hoch und sorgte dafür, daß er nicht hinunterfallen konnte. Es dauerte lange, bis er einschlief.
Als er aufwachte, hörte er etwas unter sich. Sein erster Gedanke war, daß der Mann doch noch lebte – bis er hinunterschaute. Drei seiner Leute waren dort und aßen von der Leiche.
Er handelte, ohne zu überlegen. Er kletterte hinunter und stellte sich über den übel zugerichteten Toten. Er beschützte ihn mit den Beinen und knurrte seine Leute an: zwei Frauen und ein Mann. Sie kauten an Fleischstücken. Verständnislos starrten sie ihn an. Was war los, weshalb mischte er sich ein?
Er starrte finster zurück. Er schüttelte den Kopf. Laute kamen aus seinem Mund. Er konnte es nicht erklären. Er konnte sie nur davon abhalten, von diesem Fleisch zu essen. Das tat er. Seine Haltung sagte deutlich genug, daß er bereit war zu kämpfen. Warum? Er wußte es selbst nicht. Er empfand weder Schock noch Grauen. Es war vernünftig, Fleisch zu essen. Und nur das taten sie.
Doch das war nicht irgendein Fleisch, und es gab andere Nahrung. Das war ein Wie-er. Einer seiner Leute. Sie waren miteinander lebendig geworden. Er hatte ihn an diesen Platz gebracht. Sie hatten miteinander geteilt, was zu teilen war.
Und er hatte ihn in den Tod geführt.
Es erschien ihm falsch, ihn zu essen. Man mußte etwas anderes mit ihm tun. Er gab sanfte Töne von sich, bittende. Er streichelte das kalte, verunstaltete Gesicht. Wieder schüttelte er den Kopf.
Die drei anderen zogen sich ein Stück zurück und kauerten sich nieder, um zu sehen, was er tun würde. Sie kauten weiter.
Er betrachtete die Leiche. Sie sah nicht schön aus. Er wollte sie nicht mehr betrachten. Auch er zog sich zurück, setzte sich auf den Boden, warf nur hin und wieder einen Blick auf den Toten. Fliegen hatten sich inzwischen auf ihm niedergelassen. Sie fraßen.
Sein Kopf schmerzte. Auch er war hungrig. Er wußte nicht, was er tun
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