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Die neue Menschheit

Die neue Menschheit

Titel: Die neue Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chad Oliver
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sollte. Er wußte nur, was geschehen würde, wenn er die Leiche liegenließ.
    Die große Sonne kletterte den Himmel hoch. Es wurde sehr heiß. Die Luft war drückend und still. Die Leiche begann anzuschwellen. Ein Gurgeln kam von ihr. Sie begann zu stinken.
    Er war sich nicht bewußt, daß er eine Entscheidung getroffen hatte, doch plötzlich stand er auf. Er hob die aufgedunsene Leiche hoch, was nicht einfach war. Der Gestank war atemberaubend. Er versuchte, die Luft anzuhalten. Er trug sie zum Bach und bemühte sich, sie nicht anzusehen. Er ging eine beachtliche Strecke bachabwärts, dann watete er ins Wasser, bis zur Bachmitte, wo die Strömung am schnellsten war.
    Sanft legte er die Leiche ins Wasser. Sie wirbelte herum, ging unter und kam wieder hoch. Und dann war sie verschwunden.
    Er fühlte sich plötzlich so klein. Er wußte nicht, wie er begonnen hatte, wohl aber, wie er eines Tages enden mochte. Einmal würde er das sein. Fleisch, das der Bach mit sich schwemmt …
    Es gab Beschränkungen, Probleme, die er nicht lösen konnte, Dinge, die er nicht tun konnte. Er fühlte sich verlassen. Ihm fehlte die Sicherheit der pulsierenden Würfel. Fast konnte er sie noch hören: Dieh! Dieh! Dieh!
    Er watete ans Ufer, sich beobachtender Augen bewußt. Seine Leute. Nahezu alle. Vielleicht spürten auch sie es. Etwas hatte sich geändert. Etwas war verloren. Etwas, das es nie wieder geben würde.
    Allein. Sie waren ganz allein.
     
    Die Zeit verstrich. Der vorher so strahlende Himmel wurde stumpf und grau. Der Wind kam aus weiter Ferne und sang ein anderes Lied. Die Bäume, die zusehends kahler wurden, ächzten und stöhnten. Es war kalt, und es wurde immer kälter.
    Die Blumen waren verschwunden, genau wie die süßen Früchte. Beeren waren spärlich und bitter. Die Menschen gruben nach Wurzeln, die sie nicht satt machten. Sie tranken eisiges Wasser, das Krämpfe in ihrem Bauch verursachte. Sie waren dünn und gar nicht mehr kräftig.
    Ihm ging es nicht besser. Das Fleisch verschwand von seinen Knochen. Selbst wenn er geschlafen hatte, war er müde. Fröstelnd kauerte er sich in seinem Nest zusammen. Sie war nun bei ihm. Wann hatte sie sich ihm angeschlossen? Es schien lange her zu sein. Sie wurde zu einem Teil von ihm. Er machte sich Sorgen um sie. Er machte sich Sorgen um all seine Leute, doch am meisten um sie.
    Er strich ihr über das lange schwarze Haar. Es war nicht mehr so weich, wie es gewesen war, auch nicht so glänzend. Sie gehörte zu den Blumen, doch es gab keine Blumen mehr.
    Er zog sie an sich, spürte ihre Zerbrechlichkeit. Es war kein Verlangen in ihren Körpern. Sie suchten nur Wärme, nicht die Erregung der ersten Zeit. Allmählich legte sich ihr Zittern. Sie schenkten einander Wärme und Zuversicht.
    Er bemühte sich zu überlegen. Ihre Anwesenheit in seinem Nest zwang ihn, eine Lösung zu ihren Problemen zu finden. Sie brauchte zu essen. Sie brauchte Wärme. Sie brauchte Schutz. Das brauchten sie alle. Es genügte nicht, nur zu warten und durchzuhalten und auf eine bessere Zeit zu hoffen.
    Er mußte etwas tun! Das Problem löste sich nicht von allein.
    Er drückte sie sanft an sich. Sie sollte wissen, daß er sich bemühte. »Dieh«, flüsterte er. »Dieh. Dieh.« Das sagte er oft zu ihr.
    »Dieh«, erwiderte sie weich. Sie lächelte ein wenig.
    Eine Dunkelheit senkte sich auf ihre Welt herab, eine Dunkelheit, die sowohl bekannt als auch unbekannt war. Ein schneidender Wind peitschte die knarrenden Äste. Kälte stapfte durch das Nachtland.
    Sie waren zu zweit, aber sie waren so klein. Die Welt kümmerte sich nicht darum, was aus ihnen werden sollte.
     
    Viel Zeit blieb nicht mehr.
    Hunger nagte in seinen Eingeweiden. Kälte färbte das grüne Wasser blau. Eiskristalle wuchsen auf leeren Bäumen. Die Haut seiner Leute spannte sich über fast fleischlose Knochen.
    Er plante. Er lernte aus Gesehenem und Erlebtem und aus den Fehlern, die er gemacht hatte. Er konnte sich keine weiteren erlauben.
    Er handelte. Er führte seine Leute wieder hinaus. Das war nicht einfach. Sie wollten nicht fort. Er mußte ihnen drohen, seine eigene Schwäche verbergen. Er mußte sie antreiben.
    Es war nicht mehr nötig, nach Schatten zu suchen. Die sengende Hitze war nur noch Erinnerung. Er stattete seine Leute mit kräftigen Stöcken und mit Steinen aus.
    Er wußte, was er tat. Er führte sie den alten Pfad entlang. Er hatte sich verändert. Der Boden war hart wie Stein, das Gras gebeugt und leblos. Der Wind blies von

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