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Die neue Menschheit

Die neue Menschheit

Titel: Die neue Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chad Oliver
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man sich einbildete, sie ganz genau zu kennen und die Computer selbstsicher summten, dann überraschten sie einen. Das nette kleine Gesetz der menschlichen Natur hatte seine Lücken.
    Varnum war nicht bereit, Marionette zu sein.
    Vielleicht versuchte er es mit einem eigenen Gesetz – oder auch mehreren.
     
    Er wußte, was er tun mußte.
    Wenn man nicht kämpfen kann, wenn man nicht verhandeln kann, wenn Kapitulation unmöglich ist, bleibt einem nur eines:
    Davonlaufen.
    Laufen und seine Spuren verwischen.
    Blieben nur ein paar kleine Probleme.
    Zum Beispiel: Wohin?
    Zum Beispiel: Wie?
    Unbedeutende Einzelheiten.
    Es mußte einen Weg geben. Es mußte!
    Einen Vorteil hatte Varnum. Er kannte diese Welt besser als sie. Er kannte sie aus Jahren hinreichender Erfahrung. Jeden Stein, jeden Baum, jeden Dorn.
    Er beabsichtigte diesen Vorteil zu nutzen.
     
    Skelette.
    Er würde alles an menschlichen Gebeinen brauchen. Wie viele konnten es sein? Wie viele waren gestorben? Er mußte nachdenken, sich an einen nach dem andern erinnern. Männer, Frauen, Kinder. Nicht ein Toter war begraben worden. Die meisten hatte der Bach mit sich getragen.
    Es würden einige Knochen übrig sein. Er wußte, wo einige herumlagen. Sie waren nicht bis zum Wasserfall gekommen. Manche Leichen waren schon zuvor ans Ufer geschwemmt worden. Tiere hatten sich an ihnen gestärkt. Außerdem gab es Fische im Bach.
    Natürlich keine schönen, vollständigen Skelette, nur verstreute Knochen.
    Genügte das?
    Es würde vermutlich noch mehr geben, bis sie ankamen, wohin sie ziehen würden.
    Varnum war überzeugt, daß er mit den Gerippen zurechtkam. Es war nicht viel mehr als eine Fleißarbeit: suchen und zusammenbringen.
    Mit den Lebenden war es etwas anderes.
    Er konnte sich nicht mit Worten mit seinen Leuten verständigen. Und selbst so – ihnen fehlte das Wissen zu verstehen, was er ihnen klarmachen wollte.
    Ihr Leben war verheißungsvoll, relativ gesehen, natürlich. Aber sie kannten kein anderes. Die Nester waren sicher. Sie mußten nicht mehr frieren. Es gab genug zu essen.
    Sie würden nicht fortwollen.
    Na gut. Er würde sie dazu bringen! Er würde sich seiner Machtposition bis aufs äußerste bedienen. Er würde auch kämpfen, wenn es sein mußte.
    (Hatte er das Recht dazu? Er wußte mehr als sie, ja. Er tat es für sie, ja. Konnten die Männer im Sternenschiff nicht mit demselben Argument aufwarten? War es nicht das, was Ira Luden dachte? Genug, das war genau dieser Gedankengang, der ihn überhaupt erst in diese Schwierigkeiten gebracht hatte. Er wußte, was er tun mußte. Er würde sich auf sich selbst verlassen. Über die Moral konnte er sich später Gedanken machen; den Rest seines Lebens, wenn er es schaffte.)
    Ihm wurde bewußt, daß er für sich noch mehr zu erwarten hatte. Er war nicht nur der Führer seiner Leute. Was er vollbracht hatte: das Feuer, die Speerspitze – waren für Menschen, die im Dunkel der Unerfahrenheit tappten, wahre Wunder. Sie hatten noch keine richtige Vorstellung vom Übernatürlichen, aber sie hielten Varnum für anders als sie. Das konnte er sich zunutze machen.
    Ein bißchen Dramatik bewegte sie möglicherweise mehr als Drohungen.
    Schaum um den Mund, ein gewaltiges Heulen beeindruckten vielleicht. Es wäre nicht das einzige Mal in der Geschichte der Menschheit, daß dies Logik übertrumpft hätte.
    Er hatte die Monitoren nicht vergessen. Sie würden alles aufnehmen, vermutlich aus dem Orbit. Er wußte, daß er ihnen nicht ganz entgehen konnte. Auf gewisse Weise würden sie ihn sehen.
    Aber es gab Möglichkeiten, Monitoren zu narren. Zu sehen war eines, das Gesehene zu verstehen, etwas anderes. Die Monitoren würden auf diesen Ort eingestellt sein und eine Weile brauchen, sich umzustellen.
    Er konnte ihnen ein paar technische Probleme füttern, an denen sie zu kauen haben würden.
    Es gab nichts Geeigneteres als ein ordentliches Gewitter, um eine gute Sicht unmöglich zu machen. Und eine Schicht festen Gesteins.
     
    Fünfundvierzig Tage später führte Varnum seine Leute fort.
    Es war bitter kalt, und ein schneidender Wind pfiff durch kahle tropfenden Äste. Der Himmel war von bleiernem Grau, und ein eisiger Regen fiel. Es war kein heftiger Regen, aber der Wind peitschte ihn zu wahren Vorhängen aus halbgefrorenem Wasser. Blitze zuckten durch das Halbdunkel, und Donner grollte um den Rand der Welt.
    Varnum ging voran, mit seiner dünnen, zitternden Tochter auf den Armen. Sie schien so gut wie nichts zu wiegen.

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