Die neue Menschheit
sich, daß seine Leute stark waren. Sie waren an Kälte, Wind und Wetter gewohnt und auch an lange Märsche. Sie würden es schaffen. Sie mußten es schaffen. Es war schließlich ihre Welt! Aber so wie jetzt hatte er sie noch nie gesehen und nicht für so lange Zeit, ohne eine Zuflucht irgendwelcher Art. Es gab keinen Schutz gegen die Kälte, den Wind und den Regen. Es war eine Welt ohne Erbarmen.
Die Nacht brachte wenig Änderung, die graue Düsternis verdunkelte sich lediglich, und der Wind wurde unregelmäßiger.
Der Pfad wich selten vom Bach ab. Deutlich konnte Varnum rechts von sich sein silbernes Schimmern sehen. Wenn der Wind gerade nicht blies, hörte er sein Plätschern, sogar das Zischen des Regens, wenn er auf der Wasseroberfläche aufschlug. Er kannte diesen Bach, der hier schon fast ein Fluß war, genau und wußte deshalb, wo er war. Und das war gar nicht so ermutigend, denn er konnte sich nicht damit trösten, daß sie es nach der nächsten Biegung geschafft haben würden.
Es lagen noch viele Biegungen des Baches und des Pfades vor ihnen.
Seine Beine waren fast gefühllos. Sein Rücken schmerzte. Seine Arme schmerzten. Varnum duckte den Kopf gegen den windgepeitschten Regen. Stumpf starrte er auf den Schlamm vor seinen Füßen und stapfte weiter.
Etwas anderes konnte er nicht tun.
Gegen Morgen wußte er, daß seine Tochter tot war.
Das dünne Bündel, das er an seine Brust gedrückt hielt, rührte sich nicht. Kein Laut kam davon. Und er spürte, daß der stille, kalte Körper steif wurde.
Er ließ seine Last nicht los. Er zeigte nicht, daß es eine Änderung gegeben hatte. Er könnte Dieh jetzt nicht mit Ohnenamens Leiche gegenübertreten. Das wäre zu viel. Und er konnte sie nicht einfach ablegen.
Es war nicht reine Gefühlsduselei, die ihn bewegte.
So leicht sie war, war sie doch ein zusätzliches Gewicht. Aber er hatte Verwendung für diese Leiche.
Er stolperte jetzt öfter, doch seine Müdigkeit war nicht mehr so schlimm. Sie kamen ihrem Ziel näher.
Es war jetzt nicht mehr weit. Nicht mehr weit …
Es war ein bleicher, unfreundlicher Morgen, ohne jegliche Wärme. Es regnete immer noch, und der Wind nahm an Stärke wieder zu. Er peitschte gegen ihn. Dieser trostlose Morgen machte selbst ihm zu schaffen. Selbstbedauern regte sich in ihm. Während er dahinstapfte, mit der Leiche seines Töchterchens an der Brust, erschien ihm seine Verantwortung zu groß für einen einzelnen. Er mußte führen, mußte alle Entscheidungen treffen, mußte seine Leute anspornen.
Er war schließlich kein Supermann. Er war müde und unsicher und hatte Angst. Er hatte Fehler gemacht.
Er konnte es nicht allein schaffen.
Er riskierte einen Blick über die Schulter, voll Angst vor dem, was er sehen würde. Er geriet aus dem Gleichgewicht und wäre fast gefallen. Blinzelnd blickte er noch einmal über die Schulter. Und dann wurde sein Schritt fester.
Er schämte sich.
Seine Leute waren da – alle! Sie hatten sich von der schrecklichen Nacht nicht unterkriegen lassen. Und sie folgten ihm nicht einfach blind. Er war nicht ihr einziger Führer. So sehr sie froren, so durchnäßt und müde sie waren, sie schafften es aus sich heraus!
Späher trug ein Kind auf der Schulter. Trotz dieser Last stapfte er die Reihe auf und ab und gab ermutigende Laute von sich. Vogeltöter stützte eine Frau, die sich ein Bein verletzt hatte. Nister, der selbst zwei Kinder hatte, spielte doch tatsächlich mit dem Kind von anderen, das Steinchen in den Bach warf. Dieh lächelte ihm zu, bedeutete ihm, daß es ihr gut ging. Sein Sohn grinste über das ganze Gesicht und winkte ihm.
Varnum blinzelte eine Nässe in den Augen zurück, die nicht vom Regen stammte. Nicht zum erstenmal hatte er seine Leute unterschätzt.
Mit der seltsamen Klarheit, die Erschöpfung manchmal mit sich bringt, wurde ihm bewußt, daß er sie genauso brauchte wie sie ihn. Ebenso wurde ihm bewußt, daß in der Rückkehr seiner Erinnerung eine heimtückische Gefahr steckte. Er mußte sehr darauf achten, daß er nicht allzusehr wie die Menschen der Erde wurde und einfach über das Schicksal anderer bestimmte.
Er konnte es sich nicht leisten, sich von seinem beachtlichen Wissen beeindrucken zu lassen.
Er war kein Gott.
Und er durfte nicht zu einem anderen Ira Luden werden!
Nun, er würde sein Bestes tun. Von ganzem Herzen wünschte er sich, er könnte seine Tochter ins Leben zurückbringen. Er scheute sich vor dem, was er mit ihrer Leiche noch tun mußte
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