Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
jener Kulturanthropologie, welche die Bedeutung der «sozialkulturellen Persönlichkeit» zu präzisieren suchte, hat er dann sein Habitus-Konzept entwickelt. Durch diese Humanwissenschaft wurde seine Aufmerksamkeit auch darauf gelenkt, wie Werte, Normen, Symbole die soziale Praxis gestalten. Durch sie wurde seine Sensibilität gegenüber dem Problem geschärft, wie die komplizierte materielle und kulturelle Einheit der sozialen Welt erfasst werden könnte. In der Ethnologie, wie er sie unter den Kabylen Nordafrikas selber praktiziert hat, fand Bourdieu einen andauernd aktiven Kategorien- und Ideenspender seiner Ungleichheitsforschung.
Bourdieu hat sie theoretisch und vor allem empirisch in immer neuen Anläufen in seinem weit verästelten, umfangreichen Werk vorangetrieben. Klasse bleibt für ihn, wie für Marx und Weber, die analytische Zentralkategorie. Aber im Vergleich mit ihnen wird Bourdieus Theorie erweitert um die Dimensionen des kulturellen Kapitals, der symbolischen Macht und des Habitus, da Klassen nach seiner Auffassung nicht nur auf den Unterschieden der materiellen Lebensbedingungen, sondern auch ganz wesentlich auf dem ungleichen Zugang zu den diversen Kapitalsorten und Machtressourcen sowie auf ihrem spezifischen Habitus beruhen.
Das weite Spektrum an materiellen Lebensbedingungen von sozialen Klassen wird empirisch ermittelt. Aber für die Machtanalyse differenziert Bourdieu den summarischen Begriff des Kapitals in vier Sorten:
1. Das ökonomische Kapital entspricht dem traditionellen Kapitalbegriff von Ricardo und Marx.
2. Das soziale Kapital meint das Netzwerk und jene zahlreichen Ressourcen, die der Familienverband zu nutzen gestattet – oder aber nicht besitzt.
3. Das kulturelle Kapital umfasst Bildung, Wissen, Geschmack. Es tritt objektiviert z.B. in Büchern, Bildern, Teppichen zutage; internalisiert im ästhetischen Urteil; institutionalisiert in akademischen Titeln. Alle drei Kapitalsorten beeinflussen in der Regel im Verbund die soziale Machthierarchie.
4. Das symbolische Kapital ist ein (gewöhnlich auf den drei anderen Kapitalsorten beruhender) Vorschuss auf legitime soziale Wertschätzung. Es steigert den Anspruch auf «Deference», auf Respekterweisung, und legitimiert damit die Herrschaftsausübung.
Alle Kapitalsorten sind in Bourdieus System nicht nur wechselseitig konvertierbar, vielmehr gestatten sie auch, klassenspezifische Machtpotentiale – oder den Ausschluss von ihnen – differenziert zu bestimmen.
Mit seinem Habitusbegriff ersetzt Bourdieu nicht nur das marxistische Klassenbewusstsein, sondern auch den Begriff der «sozialkulturellen Persönlichkeit», mit dem die amerikanische Kulturanthropologie seit längerem operiert hatte, um jene innere Steuerungsinstanz des Individuums zu charakterisieren, die durch die Internalisierung gesellschaftlicher Werte und Normen, Handlungsanweisungen und Geschmacksrichtungen aufgebaut wird. Insofern bildet der Bourdieusche Habitus ein Scharnier zwischen Gesellschaft, Klassenlage und sozialer Praxis einerseits, kultureller Sinndeutung, Symbolkonstruktion und «Weltbild» andererseits. Er verkörpert die Summe aller im Sozialisationsprozess verinnerlichten Dispositionen, welche die Perzeption der Umwelt, das Denken, das Verhalten, die Emotionen, die Körpersprache usw. steuern. Er bildet in Bourdieus vielzitierter Definition eine «Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix», die sowohl mental als auch durch die körperliche «Einverleibung», analog zu Foucaults «Einkörperung», aufgebaut wird.
Gesellschaftliche Erwartungen werden in das Innere, in den Habitus des Individuums hineinverlagert, und durch den Habitus wird dann wiederum die gesellschaftliche Konsistenz aufrechterhalten. Dabei besitzt der Habitus in Bourdieus Worten «eine strukturierte und eine strukturierende» Kapazität, die überdies stets geschlechtsspezifisch geprägt ist. Der Habitus gewährleistet zwar die gesellschaftliche Kontinuität, bleibt aber flexibel und kann durch die Erfahrung etwa von Krisen und Umwälzungen umgebaut werden. Da der Habitus stets klassenspezifisch modelliert wird, trägt er zur inneren, zur habitualisierten Kohärenz sozialer Klassen bei. Mit ihm hat Bourdieu ein analytisches Instrument aus den Anregungen der Ethnologie und der Sozialisationsforschung gewonnen, dessen Differenzierungsfähigkeit über den Nutzen des altertümlichen, sei es «richtigen» oder «falschen», Klassenbewusstseins weit hinausgeht.
In der methodischen
Weitere Kostenlose Bücher