Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
worden sind.
Schon bis 1992 fiel ein Drittel aller ostdeutschen Arbeitsplätze weg. Das traf die Arbeitslosen auch deshalb besonders hart, weil der Arbeit im Ideenhaushalt des verblichenen «Arbeiter- und Bauernstaats» ein hoher Stellenwert beigemessen worden war. Die Anzahl der Eheschließungen und die Geburtenziffer wurden halbiert, die Scheidungsfrequenz verdoppelte sich. An die Stelle des Übermaßes an staatlich gewährter Sicherheit trat seit 1990 zunächst einmal ein Übermaß an Unsicherheit.
Kurzum: Die neuen Bundesländer erlebten einen tiefgreifenden, schockartig wirkenden sozialkulturellen Bruch, der ihnen ein Höchstmaß an Anpassung an die überraschend neuartigen Lebensverhältnisse abverlangte. In diesem Prozess fehlte den Westdeutschen, in deren Gedächtnis die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit völlig zurückgetreten waren, ein auf direkten eigenen Erfahrungen beruhendes Verständnis. Immerhin wurde ohne die konventionellen Solidaritätsbeschwörungen eines deutschen Nationalismus die solidarische Haftung für die Wiederaufbauleistungen ohne Murren übernommen. Um diese kontinuierlich gewährten Leistungen wurden die Ostdeutschen von allen ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion beneidet, da ihre Modernisierung ungleich schwieriger zu bewältigen war.
Das steile Gefälle der Ungleichheit, die das Verhältnis des wohlhabenden Westdeutschlands, das seit langem zu den reichsten Ländern der Welt gehörte, zu dem Entwicklungsland im Osten charakterisierte, mutete der ostdeutschen Bevölkerung schmerzhafte Veränderungen zu. Die überkommene Struktur der Sozialen Ungleichheit wurde einer unnachgiebigen Verwestlichung ausgesetzt. Diese setzte sich als eine Differenzierung nach oben durch, nachdem die DDR konsequent nach unten nivelliert hatte. Freilich hatte sie dabei auch verräterische Ausnahmen gemacht, da vor 1989 85 Prozent der Studenten aus den Familien der privilegierten «sozialistischen Intelligenz» stammten, während der Anteil der Arbeiterkinder noch geringer als in der Bundesrepublik ausfiel. Zu der Zunahme der Unterschiede gehörte auch der Umbau der Arbeiterschaft und der verbliebenen Bauernschaft in Bestandteile einer neuen Mittelklassengesellschaft. An die Stelle der kleinen politischen Monopolelite traten pluralistische Funktionseliten westlichen Zuschnitts, auf vielen Ebenen auch dominiert von westdeutschen Zuwanderern. Die loyale kommunistische Dienstklasse, die ganz der Monopolelite mit ihren sechshundert Köpfen zugeordnet gewesen war, wurde durch eine den Westen imitierende flexible Dienstklassengesellschaft ersetzt.
Ein Rundblick ergibt daher eine Vielzahl von neuartigen Belastungen, mit denen die ostdeutsche Bevölkerung zu kämpfen hatte. Darauf hatte sie die Glitzerwelt des westdeutschen Fernsehens nicht vorbereitet. Diesen Problemen stand freilich eine imponierende Wohlstands- und Modernisierungssteigerung gegenüber. Der Lohnanstieg führte dazu, dass das Arbeitnehmereinkommen von einem Drittel auf drei Viertel des westdeutschen Durchschnitts anstieg. Die ostdeutsche Wertschöpfung erreichte schon drei Jahre nach der Wende 45 Prozent des Westens. Das Bruttoinlandsprodukt kam bis 2000 auf 69 Prozent des Westens. Mit diesem Tempo wurde sogar der westdeutsche Anstieg auf dem Höhepunkt des «Wirtschaftswunders» durch eine nachholende Einkommensexplosion übertroffen. Die Verdienstlücke zwischen West und Ost war bis 1998 auf einen Unterschied von zwölf Prozent geschrumpft. Der Autobestand hatte sich schon bis 1993 verdoppelt: Von 228 schnellte er auf 418 Pkw für 1000 Einwohner. In der alten Bundesrepublik hatte er viermal so lange (von 1970 bis 1985) von 230 auf 412 in Anspruch genommen. Die Haushaltsausstattung bewegte sich nach kurzer Zeit auf modernstem Westniveau. Überhaupt verbesserte sich erstaunlich schnell die Wohnsituation namentlich in den krass vernachlässigten Innenstädten. Ein wahrer Boom kennzeichnete den Anstieg von Reisen in Länder, die bis zum Fall der Mauer den Ostdeutschen verschlossen geblieben waren.
Ein drastischer Qualitätssprung stellte sich auch im Dienstleistungsangebot ein. Die Sanierung der von der SED rücksichtslos behandelten Umwelt kam in großen Schritten voran. Die Verkehrsverbesserung brachte den Ostdeutschen neue ICE-Strecken und Autobahnen, dazu das modernste europäische Telefonnetz. Die Gesundheitsversorgung wurde dem westdeutschen Niveau zügig angeglichen. Die schwierige Versorgung der Agrargebiete mit einer
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