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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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noch zusätzlich kompliziert. Immerhin wurden die Islamisten dadurch etwas zurückgedrängt.
    Somalia ist heute de facto zerbrochen: Die nördlichen Provinzen Somaliland und Puntland sind faktisch autonome Teilstaaten; um den Süden mit der Hauptstadt Mogadischu streiten hingegen unvermindert lokale Warlords mit Shabaab-Milizen und der Übergangsregierung. Als Konfliktpartei neu hinzugekommen sind allerdings die Piraten. Denn selbstverständlich lockt Somalia als vollkommen rechts- und steuerfreier Raum die internationale Kriminalität an: nicht nur Schiffsräuber und Geiselnehmer, sondern auch Menschenhändler, Schleuser, Organschmuggler, Drogendealer, Waffenschieber.
    Beim Stichwort Somalia denkt die Welt heute vor allem an illegal verklappten Gift- und Atommüll vor den Küsten, an ausländische Fangflotten, die unkontrolliert die Schutzzonen leer fischen, die von keiner Küstenwache mehr gesichert werden, sowie an eine boomende Piratenindustrie, die sich an Lösegeldzahlungen für gekaperte Handelsschiffe und gekidnappte Schiffsbesatzungen mästet, was wiederum von der EU-Marine-Mission «Atalanta» unterbunden werden soll.
    Für das Ausland ist Somalia ein hoffnungsloser Fall: die Nummer 1 auf der Liste der am schlechtesten regierten Länder Afrikas, ein Paria-Staat in Geiselhaft wechselnder Krimineller, die vom Bürgerkrieg prächtig profitieren, ein implodierter und gescheiterter Staat, geschlagen mit allen nur denkbaren postkolonialen Geburtsfehlern, seit 1991 ohne zentrale Regierungsmacht und ohne staatliche Ordnung, verschrien als Schutzzone, Trainingslager und Brutstätte von Jihadisten, die sogar Kinder für den Krieg zwangsrekrutieren. Hinzu kommen wiederholte Dürrekatastrophen und verhungernde Menschen. Schließlich gilt Somalia als jenes perverse Land, das sich nicht helfen lassen will: Es hat sich mit Waffengewalt gegen die Hungerhilfe der Vereinten Nationen zur Wehr gesetzt, ein erster humanitärer UN-Militäreinsatz ist bereits 1995 gescheitert, und auch während der Hungersnot von 2011 verhinderten Shabaab-Milizen die Verteilung von Hilfsgütern. Dass Somalia überdies mit Menschenrechtsverletzungen
en gros
und mit Genitalverstümmelungen – nach wie vor gängige Praxis bei Mädchen, wie sie Waris Dirie in ihrer Autobiographie publik machte – von sich reden macht, passt ins Bild.
    Dass Somalia andererseits einen der bedeutendsten Schriftsteller Afrikas hervorgebracht hat, ist weniger bekannt, gereicht dem kaputten Land aber zur Ehre wie kaum etwas sonst. Nuruddin Farah, Jahrgang 1945, ist ein kosmopolitischer, vielsprachiger Erzähler, der jedoch Englisch schreibt, Produkt der kulturellen Mischungen am Horn von Afrika. Die britischen und italienischen Kolonialherren prägten ihn ebenso wie die arabischen Koranschulen und der äthiopische Einfluss der Ogaden-Region, in der Farah aufwuchs und bis zu seinem achtzehnten Jahr lebte. Sein Vater war Dolmetscher des britischen Gouverneurs im Ogaden. Er selbst, das vierte von zehn Kindern in der Familie, lernte seit dem vierten Lebensjahr in der Koranschule Arabisch und spricht neben seiner Muttersprache Somalisch auch Amharisch, ferner die beiden Kolonialsprachen Englisch und Italienisch und sogar Hindi, das er an der Punjab Universität in Indien erlernte, wo er in den 1960er Jahren Philosophie, Soziologie und Literatur studierte.
    Dass er sich für Englisch als seine Literatursprache entschied und nicht für eine seiner anderen fünf Sprachen, hat einzig mit der Schreibmaschinezu tun, wie Nuruddin Farah in Interviews gerne erzählt: «Somalisch konnte ich nicht schreiben, denn es gab 1965, als ich meine erste Kurzgeschichte veröffentlichte, noch keine somalische Schrift. Somalia ist zwar das einzige Land Afrikas mit einer einheitlichen Nationalsprache, doch das Somalische war nur eine gesprochene Sprache, es wurde erst 1972 verschriftlicht und als Amtssprache eingeführt. Amharisch wiederum war die Sprache der äthiopischen Unterdrücker und hat außerdem mehr als 200 Buchstaben. Und arabische Schreibmaschinen sind unmögliche Apparate. Ich begann also, Italienisch zu schreiben, aber meine alte Olivetti brach ständig zusammen. Dann fand ich eine vorzügliche amerikanische Schreibmaschine – und damit war die Frage entschieden.»
    Seither hat Nuruddin Farah es zu seiner literarischen Lebensaufgabe gemacht, «mein Land am Leben zu

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