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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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den Wahlen zu schmälern.
    Aatish Taseer gilt zwar formell als Muslim wie sein abwesender Vater, wurde aber von seinen Sikh-Großeltern erzogen, praktizierte eine Zeitlang als Hindu, ging auf ein Internat christlicher Missionare in Südindien, studierte in Amherst, Massachusetts, lebt heute als Reporter und Roman-Autor abwechselnd in London und New Delhi und schreibt für britische und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften. Seine gemischte Identität ist immer wieder Ursache für Anfragen und Zweifel, wie es denn um seine Zugehörigkeitsgefühle bestellt sei.
    Dieser Frage ist Aatish Taseer mit Mitte zwanzig mit besonderer Sorgfalt und Gründlichkeit nachgegangen. Dazu provoziert wurde er durch das schwierige und aufgeladene Nicht-Verhältnis zu seinem Vater. Schon als Teenager hatte Aatish mehrfach versucht, brieflich mit seinem Vater Kontakt aufzunehmen, doch die Briefe blieben immer unbeantwortet. Am Telefon ließ sich der Vater die längste Zeit verleugnen, und als der Sohn einmal nach Lahore fuhr und den Vater telefonisch um ein Treffen bat, antwortete dieser kühl: «Zu welchem Zweck?»
    Der Vater trat erst in Erscheinung, als der Sohn im Jahr 2005 mit Reportagen über junge Islamisten in England internationale Aufmerksamkeit erregte. Darin beschrieb er die zweite Generation pakistanischer Einwanderer in England als besonders anfällig für Terrorismus. Die Texte empörten Taseer senior in Lahore, er empfand sie als «beleidigende Propaganda», die Pakistan beschmutze, und schrieb dem Sohn in London einen zornigen Brief. Es war der erste Brief, den Aatish je von seinem Vater erhalten hatte. Salmaan Taseer warf dem Sohn darin mangelnde «Kenntnis des pakistanischen Ethos» vor und beschrieb sich selbst als «kulturellen Muslim». Aatish Taseer wusste, dass der Vater jeden Abend Scotch trank, weder fastete noch betete, sogar Schweinefleisch aß und überdies zugab, mit dem Koran nichts anfangen zu können – und doch führte er gegen den glaubensfernen und verwestlichten Sohn vorwurfsvoll die eigene islamische Identität ins Treffen.
    Der Vater schien so etwas wie eine muslimische Kultur Pakistans zu meinen, mutmaßte der Sohn und beschloss, seine Kenntnisse darüber zu vertiefen. Er machte sich auf die Suche nach der Welt seinesVaters, um diese besser verstehen zu lernen. Er begab sich auf eine achtmonatige Reise durch die islamische Welt, die in Istanbul begann und in New Delhi endete, mit Stationen in der Türkei, in Syrien, Saudi-Arabien (samt dem Abstecher einer Pilgerfahrt nach Mekka), Iran und Pakistan. Das Buch, das 2009 daraus hervorging, nannte er «Stranger to History» (deutscher Titel: «Terra Islamica. Auf der Suche nach der Welt meines Vaters»).
    Es ist eine hybride Mischung geworden, ein Amalgam aus politischer Reisereportage, Pilgerbericht, Familienforschung, Auseinandersetzung mit dem Vater und Untersuchung des erstarkenden militanten Islamismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Überschneidungen von Politik und Religion. Das Ganze wird bezogen auf die Zeitgeschichte des Subkontinents seit dem Ende des British Empire und seines Kaiserreichs Indien. Die Engländer zogen 1947 überstürzt ab und ließen Chaos und zwei Länder zurück: Indien in der Mitte und ein zweiflügeliges Pakistan zu beiden Seiten – im Industal im Westen und im Gangesdelta im Osten. Das Ergebnis ist bis heute eine Unfriedensgeschichte der Spaltungen und Abspaltungen, der Nachbarschaftskriege und der geteilten und umkämpften Regionen mit unklaren Grenzen und permanenten Grenzkonflikten. Aatish Taseer möchte die Lebensgeschichte seines Vaters vor dem Hintergrund der Entstehung, der Krisen und des Niedergangs des künstlichen Staates Pakistan verstehen lernen. Zugleich möchte er die Flucht- und Vertreibungsgeschichte seiner mütterlichen Familie aus dem Punjab in den größeren Rahmen der Zerfallskrisen des Subkontinents einpassen.
    Der junge Autor erinnert daran, dass Pakistan ursprünglich als säkularer Staat für indische Muslime aus Indien herausgelöst wurde – keine Scharia, keine Geistlichkeit, kein Alkoholverbot –, dass sich Pakistan, das «Land der Reinen», erst 1956 zur ersten Islamischen Republik der Welt ausrief und danach in zwei Teilstaaten zerfiel, als das ostpakistanische Bengalen sich 1971 abspaltete, seine Unabhängigkeit blutig erkämpfte und sich

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