Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
zwischen der pakistanischen Staatsgewalt und den autonomen Nomadenstämmen zu sorgen hätte. So wurde er zum genauen Kenner der nomadisierenden Paschtunen-Stämme in diesen Gebieten, erlernte deren gängigste Sprache, das Paschto, und begann sich Notizen über seine Erfahrungen zu machen.
1974 verwandelte er seine Impressionen und Aufzeichnungen in eine Sammlung von miteinander verbundenen Erzählungen, die er jedoch unveröffentlicht liegen lieÃ. Erst 35 Jahre später, als Ahmad nach seiner Pensionierung in der Hauptstadt Islamabad lebte, holte er sie hervor und überarbeitete sie für eine Teilnahme an einem Erzählungswettbewerb in Karachi. Der Verlag Penguin India wurde aufmerksam. Der Band «The Wandering Falcon» â auf Englisch geschrieben wie der überwiegende Teil der postkolonialen Weltliteratur des indischen Subkontinents â sorgte nach seinem Erscheinen 2011 für eine Sensation, erhielt höchstes Lob und etliche Preise und machte Jamil Ahmad im Alter von 78 Jahren überraschend zum Debütantenstar, dessen Geschichten die Weltwahrnehmung der Leser auf ungeahnte Weise erweitern.
Die neun Erzählungen, die inzwischen auch unter dem deutschen Titel «Der Weg des Falken» vorliegen, machen eine brisante, aber kaum bekannte Krisenregion der Welt literaturfähig. Sie alle haben den Schauplatz miteinander gemein: die Stammesgebiete der nomadisierenden Clans in den unzugänglichen Grenzgebieten zu Afghanistan, eine Region, die seit langem nur als Synonym für Terrorismus und amerikanischen Drohnenkrieg gilt, als Rückzugs- und Aufmarschgebiet von radikalen Islamisten und Al-Qaida-Kämpfern, als Lieferant schlimmer Schlagzeilen in den Medien. Es ist ein karges, ausgedörrtes Niemandsland, das seine strenge Schönheit erst auf den zweiten Blick enthüllt: «Es bot tausend Schattierungen von Grau und Braun, mit denen es seine Hügel, seinen Sand und sein Erdreich tönte. Behutsame Farbveränderungen fanden sich in den kräftigen Farben der winzigen Wüstenblumen, die sich in den staubigen Sträuchern versteckten,sowie den gleitenden Schlangen und huschenden Echsen, wenn sie sich im Sand eingruben.»
Jamil Ahmad zeichnet ein differenzierteres Bild der Menschen und Lebensverhältnisse in dieser Weltgegend, voller Verständnis für ihre Traditionen, ihre Widerstandsakte und ihre Nöte, doch immer im Bewusstsein, dass ihre Lebensform nicht zukunftsfähig sein wird. Mit Empathie, präziser Orts- und Menschenkenntnis und frei von aller Romantisierung beschreibt er das archaische Leben dieser Hirtennomaden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Moralische Beurteilungen versagt er sich. Er erzählt von Stammesfehden, Blutrache und Ehrenhändeln, Grenzkonflikten und Aufständen, Entführungen und Frauenkauf und zeigt, wie die Hirtenstämme trotz aller Bedrängnis an ihrer traditionellen, seit Urzeiten eingespielten, nun aber unaufhaltsam verschwindenden Lebensweise festzuhalten versuchen.
Denn der Staat hat den Nomaden den Krieg erklärt. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen Nomadentum und Zwang zur Sesshaftigkeit, zwischen Stammesdisziplin und Staatsgewalt. «Der Druck war unerbittlich. Ein Wertesystem, eine Lebensweise musste sterben.» So sind Jamil Ahmads Erzählungen auch Geschichten über erzwungene Zivilisierung in aller Ambiguität, exemplarische Erzählungen vom Untergang vormoderner Lebensweisen angesichts der rasant und gewaltsam durchgesetzten Modernisierungsschübe in der postkolonialen, globalisierten Welt.
Entgegen den Interessen der jungen Nationalstaaten Pakistan und Afghanistan, die die jährlichen Wanderbewegungen der Hirtenstämme über die Grenzen hinweg zu unterbinden streben, versuchen die Nomaden mit ihren Kamel- und Schafherden auch weiterhin ihrem jahreszeitlichen Rhythmus zu folgen und zwischen ihrem Sommerquartier im afghanischen Hochland und dem Winterquartier im pakistanischen Tiefland zu pendeln. Sie gelten damit als Störfaktor in der Region, in der die bislang verschwommenen Grenzen immer starrer werden. Es kommt zu katastrophalen Konflikten. Die Nationalstaaten wollen, zum Teil gewaltsam, ihre strikten Grenzziehungen der älteren Stammeswelt mit ihren flüssigen und nicht-festgelegten Grenzvorstellungen aufzwingen. Das provoziert Widerstand, wie Jamil Ahmad eindringlichbeschreibt, denn die kargen Lebensbedingungen in dem vegetations- und
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