Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Stadt gar nicht erst namentlich nennen â man merkt nur allzu rasch, wo man sich befindet, nämlich im Zentrum der alltäglichen, beiläufigen Gewalt und der lebensgefährlichen Willkür. Jeden Augenblick können sich die Spannungen zwischen verfeindeten Parteien, Kasten, Religions- und Volksgruppen explosiv entladen; jeden Moment können Muslime und Christen aufeinander losgehen; Privat-Gangs sind allgegenwärtig, schwer bewaffnet und schieÃwütig; und vor jugendlichen Auftragskillern auf Motorrädern ist ohnehin keiner sicher. Jeder StraÃenpassant kann jederzeit zum Zufallsopfer werden. Die Polizei mischt sich nicht ein, genauer gesagt: Sie hat die Schmutzarbeit an eine illegale Schattenmiliz von geläuterten Folterern, Vergewaltigern und Scharfschützen delegiert, die ihre Blutspur durch Karachi ziehen, ohne je belangt zu werden. Hanif nennt sie ironisch das «Gentlemen-Korps».
Hanifs Heldin Alice Bhatti bekommt es am eigenen Leib zu spüren, in welcher brutalen Welt sie lebt: Eine Frau zu sein, dazu Katholikin und auch noch Angehörige der untersten Kaste der Chura, das ist im heutigen Karachi dreifach lebensgefährlich. Die Chura sind eine uralte, niedrige Kaste aus dem Punjab. Ihre Angehörigen arbeiten traditionell als Putz- und Dienstleute, gelten als unberührbar und sind mehrheitlich Christen. Seit in Pakistan zunehmend intolerantere Formen des Islam den Ton angeben, verschlechtern sich auch die Lebensbedingungen der christlichen Chura. Mohammed Hanif demonstriert in seinem Roman die unterschiedlichen Ãberlebensstrategien von Katholiken angesichts der Verfolgung und Unterdrückung, denen sie ausgesetzt sind.
Alice Bhatti, die mit ihrem Vater, einem Kanalräumer und Heiler und Quacksalber im Nebenberuf, im Slumviertel
French Colony
lebt, ist eine junge Hilfskrankenschwester im «Herz Jesu Krankenhaus». Trotz ihrer Jugend hat sie bereits eine stürmische Biographie vorzuweisen, die auch ein paar Jahre in einer Besserungsanstalt einschlieÃt. Verurteilt wurde sie wegen eines ärztlichen Kunstfehlers, an dem sie unschuldig war und den ein berühmter und daher nicht belangbarer Chirurg zu verantworten hatte.
Dabei lässt sich Alice keineswegs von vornherein auf die Rolle des hilflosen, passiven Opfers festlegen. Hanif nennt sie «eine Allwetter-Kämpferin, und das auf jedem Terrain». Sie ist gewitzt, energisch, couragiert, nicht auf den Mund gefallen und stets auf der Hut. Sie achtet auf ein unauffälliges ÃuÃeres, vermeidet jeden Augenkontakt auf der StraÃe, sagt kein falsches Wort und macht keine falsche Geste, denn jede unbedachte Bewegung könnte ein falsches Signal aussenden: «SchlieÃlich darf man sich keinen subjektiven Deutungen aussetzen. Sie isst niemals in der Ãffentlichkeit. Sich etwas in den Mund zu stecken, kann als Aufforderung gedeutet werden, dir irgendetwas Grauenhaftes in die Kehle zu rammen. Wer seinen Hunger zeigt, zeigt offensichtlich ein Verlangen.»
Und Alice weià sich zu wehren, manchmal auch bestürzend handgreiflich. Schon in der Schwesternschule hat sie sich mit aggressiven Muslimmädchen geprügelt, die keine Jesus-Poster im Schlafsaal dulden wollten. Und gegen den brutalen Ãbergriff eines Oberschichtschnösels, der sie in einem V.I.P.-Krankenzimmer zum Oralverkehr zwingen will, setzt sie, mit prompter Wirkung, eine Rasierklinge ein. Ihr soll nicht das Gleiche widerfahren wie ihrer Mutter, die als Putzfrau in der Villa reicher Leute vergewaltigt und ermordet wurde, was als Unfall â Treppensturz mit Schädelbruch â ausgegeben und nicht weiter untersucht wurde.
Wie man sieht, verschmäht Mohammed Hanif mitunter auch keine burlesken, polemischen und drastischen Erzählmittel. Was im Roman Schwester Alice in der Notaufnahme erlebt, müsste im realen Leben jede Menschenrechtsorganisation auf den Plan rufen: «Kein Tag verging, an dem Alice nicht eine Frau sah, die erschossen, erschlagen,stranguliert oder erstickt, vergiftet oder verbrannt, gehängt oder lebendig begraben worden war. Die Mörder waren eifersüchtige Ehemänner, Brüder, Väter, Söhne, verschmähte Liebhaber, die ihre Ehre verteidigten. Anscheinend wurden die meisten Streitigkeiten geschlichtet, indem man Frauenkörpern alles nur Mögliche antat.» Alice lernt, dass in Pakistan «das Zerstückeln von Frauen ein älterer Sport ist als Cricket, aber nicht
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