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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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übertragen – er hat es mit einer komplizierten Koalition divergierender Interessen zu tun. Im Hintergrund verhindert Sonia Gandhi jede möglicherweise unpopuläre und schmerzhafte Weichenstellung, auch wenn sie notwendig gewesen wäre. Und dann kommt noch die Weltwirtschaftskrise von 2008 dazu, die auch Indien mit ziemlicher Wucht trifft. Die internationale Finanzwelt beginnt kritischer auf den Subkontinent zu schauen. Und die Inder selbst tun das auch. Was sie sehen, ist eine Abfolge von Skandalen, wie sie sich so in einer Demokratie wohl noch nie abgespielt haben: Ein früherer Telekommunikationsminister muss ins Gefängnis, weil er Mobilfrequenzen weit unter Marktwert an befreundete Anbieter verscherbelt haben soll, Schaden für den Staat: 38 Milliarden US -Dollar. Rechte für Kohleschürfung werden ohne einen transparenten Bieterprozess ebenfalls weit unter Wert verscherbelt, Schaden für den Staat: 33 Milliarden Dollar. Die Offiziellen, die 2010 die Commonwealth-Spiele in Delhi ausrichten, ertappt man bei Betrug in großem Stil, unter anderem lassen sie befreundete Unternehmer Toilettenpapierrollen zu achtzig Dollar das Stück abrechnen; das Sportereignis wird 22-mal so teuer als geplant.
    Das Land ist in der internationalen Politik so wichtig geworden, dass 2010 und 2011 so ziemlich alle mächtigen Politiker der Welt zum Staatsbesuch nach Neu-Delhi aufbrechen, Barack Obama und Wen Jiabao, David Cameron und Nicolas Sarkozy ebenso wie Angela Merkel. Aber Indien hat im Inneren einen Siedepunkt erreicht. Die Menschen sind nicht mehr bereit, sich mit jeder Form der Vetternwirtschaft abzufinden. Dass im Alltag nichts geht ohne Schmiergelder, sind sie gewohnt. Aber inzwischen wuchert das System, und diejenigen, die ihre Hände aufhalten, werden immer zahlreicher und unverschämter. In der Hauptstadt kursiert eine inoffizielle Liste, wonach etwa bei der einigermaßen zügigen Ausstellung eines Führerscheins bis zu hundert Dollar extra, bei der Zulassung eines Privat-Pkw bis zu tausend Dollar verlangt werden. Und angesichts der exorbitanten Bestechungssummen, die in der Presse kolportiert werden, verdoppeln auch Ärzte und Polizisten ihre »Sondergebühren«.
    Wie so oft in der indischen Politik bedarf es eines zündenden Funkens, eines charismatischen Führers, um den Unwillen zu bündeln und Veränderungen zu erreichen. Im Frühjahr 2011 betritt wie aus dem Nichts Kisan Baburao Hazare die indische Bühne, Sozialaktivist und schon weit in seinen Siebzigern; Anna (»Großer Bruder«) wird er respektvoll von seinen Anhängern genannt. Er bricht mit einer Handvoll Anhänger aus seinem Dorf in Maharashtra Richtung Hauptstadt auf. In Neu-Delhi will er auf einem öffentlichen Platz einen Hungerstreik abhalten, um gegen den Nepotismus im Land zu protestieren und die Politiker zu konkreten Antikorruptionsmaßnahmen zu zwingen. Es klingt naiv, unwahrscheinlich, chancenlos – so wie es die ersten Aktionen des Mahatma Gandhi waren, den Hazare als Vorbild nennt.
    Tatsächlich zeigt sich schnell, dass der »Große Bruder« einen Nerv getroffen hat. Die indischen Fernsehstationen – heute können die Zuschauer unter mehr als 300 privaten Stationen wählen – berichten live über das Fasten. Meinungsumfragen zeigen, dass über 95 Prozent der Inder mit dem seltsamen Heiligen aus der Provinz sympathisieren. Nach 96 Stunden sieht es so aus, als wolle die Regierung einlenken, sie verspricht jedenfalls, binnen einiger Monate ein scharfes Antikorruptionsgesetz einzubringen. Als bis Juli nur ein äußerst verwässerter Entwurf vorliegt, macht Hazare ernst. Diesmal will er nicht aufhören zu hungern, bis Entscheidendes passiert. Und er wählt den Ramlila Maidan, den zentralen Platz vor dem Roten Fort in der Hauptstadt, für sein »Fasten bis zum Tod«. Seine Anhänger bauen öffentlichkeitswirksam eine Bühne auf, Hazare legt sich auf ein einfaches Bettgestell, bald sind es Zehntausende, die zu dem Demonstrationsort strömen.
    Noch immer reagiert die große Politik nicht. Anstatt dass Sonia Gandhis Regierungspartei ihren Premier mit einer flammenden Rede nach vorn schickt oder den von ihr als künftigen Regierungschef bestimmten Sohn Rahul dazu auffordert, ist da nur ratloses Schweigen. Und je länger es geht, desto populärer wird das große Hungern. Natürlich sind auch Bettler unter den Demonstranten, aber das Erstaunliche ist: Zum ersten Mal stellt die ansonsten als eher materialistisch und apolitisch verschriene Mittelschicht das

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