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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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ist die Zeit für einen Aufstand in ganz Indien gekommen.« Beim Lokaltermin in seinem Dorf zeigt sich, wie weit Hazare inzwischen zum bedeutenden Mitspieler der indischen Politik wurde. Es ist ein bisschen wie bei Hofe: Angereiste Abgeordnete aller Parteien belauern sich in dem winzigen Aktionszentrum des Ortes, immer die geschlossene Tür zum Allerheiligsten im Blick. Kaum macht Hazare einen Schritt nach vorn, stürzen sie sich auf ihn, tragen ihm ihre Anliegen vor, berühren ihn, wollen – im wahrsten Sinn des Wortes – einen Rockzipfel der neuen Macht erhaschen. Manche winkt der Hausherr weg wie lästige Fliegen, anderen schenkt er sein Ohr. Und gelegentlich lässt er sich auch einen altertümlichen Telefonhörer reichen und nimmt huldvoll die Angebote freiwilliger Helfer aus dem ganzen Land entgegen. Draußen am Tempelplatz schwenken Pilger aus allen Teilen des Landes ihre »Auch ich bin Anna«-Fähnchen und »Anna ist Indien, Indien ist Anna«-Käppchen. Bedeutet repräsentative Demokratie nicht auch, dass das Volk die Macht an die gewählten Volksvertreter abgibt? Wer hat den Guru Hazare legitimiert?
    Er hört das nicht gern. »Manchmal muss die Opposition außerparlamentarisch sein!«, ruft er empört aus. »Das ganze Land hat sich doch in den Kampf gegen die endemische Korruption, gegen dieses Krebsgeschwür, gestürzt!« Und dann setzt der Autodidakt, wieder gefasst und etwas pompös, hinzu: »Ich werde Politikern, die sich benehmen, als wären sie die Eigentümer dieses Landes, auch weiter auf die Finger schauen. Es geht um unsere nationale Würde. Die wird uns geraubt von Leuten wie dem für die Verhandlungen zum Antikorruptionsgesetz zuständigen Minister Sibal, einem im Ausland ausgebildeten Juristen, der längst den Kontakt zur indischen Wirklichkeit verloren hat. Sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn treffen!«
    Zurück in Neu-Delhi, im Büro des Ministers. Kapil Sibal, Mitte sechzig, wird jetzt immer mal wieder als einer derjenigen genannt, die es – als Übergangslösung – zum nächsten Premier bringen könnten. Gegensätzlicher als Hazare und er können zwei in der Öffentlichkeit stehende Menschen kaum sein: Der Abgeordnete der regierenden Kongress-Partei trägt Maßanzug und Krawatte, sein mit schweren Eichenmöbeln ausgestattetes Büro ist erst nach diversen Kontrollen und langwierigen Terminabsprachen zu erreichen, im Vorzimmer herrscht distinguierte Ruhe. Sibal hat an der Harvard Law School studiert, eine klassische Politkarriere hingelegt: Chef der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs, Mitvorsitzender des indisch-amerikanischen Parlamentskomitees, Repräsentant seines Landes beim Weltwirtschaftsforum von Davos. Sein offizieller Titel 2012 lautet »Minister für Menschliche Ressourcen und Kommunikations- sowie Informations-Technologie«. Ein Mann für alle Jahreszeiten, verwendbar für alle höheren Staatsaufgaben, dessen Büro mit dem des Dorfaktivisten nur eines gemeinsam hat: das Foto von Mahatma Gandhi an der Wand.
    Sibal sieht Hazares Kampagne als demokratiegefährdend, von nationalistischen Hindus gesteuert. »Der Mann ist alles andere als ein Gandhianer, und dass er uns im Kabinett durch die Bank Vetternwirtschaft unterstellt, ist eine Unverschämtheit.« Natürlich sei Korruption ein Problem, so wie sie auch während der vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklungsstufen in Europa und in den USA im 20. Jahrhundert ein Problem gewesen sei. Die Regierung habe das erkannt und sei zum Handeln bereit. »Aber dieses Land mit seinen großen Erfolgen in der Wirtschaft lässt sich doch nicht auf so etwas reduzieren. Wir haben unsere Analphabetenrate erheblich reduziert und Hunderte Millionen von der Armut in die Mittelklasse geführt.« Ist Konkurrent China nicht in jeder Beziehung weiter? »Ich vergleiche die beiden Staaten nicht«, sagt er – und tut es dann doch. »Das sind zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsmodelle. Demokratie ist ein Prozess, durch den man einen Konsens bildet, wie es weitergehen soll. Das mag bei uns ein wenig langsamer sein, natürlich kann die KP in Peking für Bauprojekte Grund und Boden anders akquirieren. Aber wenn etwas rechtsstaatlich legitimiert ist, wird es letztlich auch nachhaltiger sein.«
    Der Minister möchte nicht über indische Defizite sprechen, über die Unterernährung der Kinder, die immer noch hohe Säuglingssterblichkeit, die mangelnden Bildungschancen. Sondern über Erfolge. »Natürlich bin ich nie zufrieden«, sagt der distinguierte

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