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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Herr Sibal, dessen Vater ebenfalls ein hoch angesehener Jurist war, und dessen beide Söhne ebenfalls in Top-Anwaltsfirmen praktizieren. »Aber schauen Sie, was wir beispielsweise mit unserer Breitbandverkabelung auf dem Land machen. 250000 Dörfer sind schon vernetzt, und darüber hinaus verfolgen wir unser Projekt mit dem revolutionären Tablet-Computer für die Massen, er wird das Leben von zig Millionen verändern.« Unter 50 Dollar soll der »Aakash« (»Himmel«) kosten, das Projekt begeistert Technologiegläubige weltweit. Das Billig-Tablet mit einem Sieben-Zoll-Bildschirm, zwei USB -Anschlüssen und drei Stunden Akkulaufzeit wird nach Regierungsplan zunächst in hunderttausend Exemplaren an Schulen verteilt, später, wenn der Preis von den indischen Software-Ingenieuren in der produzierenden Firma von Hyderabad noch gedrückt werden kann, sollen landesweit mehr als zehn Millionen Nutzer an die himmlische Internetverbindung herankommen. Wie so oft in Indien aber droht auch dieser wohl durchdachte und innovative Plan an der Wirklichkeit zu scheitern, jedenfalls hinkt die Realisierung des »Aakash« dem ursprünglichen Zeitplan weit hinterher. Zum Abschluss des Interviews wagt der Minister noch eine Prognose zur dörflichen Antikorruptionsbewegung: »Der Stern des Anna Hazare und seiner Apo-Bewegung wird so schnell verglühen, wie er aufgegangen ist.«
    Ein gutes Jahr später – Mitte 2013 – zeigt sich, dass Sibal zumindest teilweise recht behalten könnte. Der »Große Bruder« aus dem kleinen Dorf kommt mit seiner Rolle als neuer Hoffnungsträger Indiens nicht zurecht, wirkt überfordert, in Widersprüche verstrickt. Zwischenzeitlich forderte er sogar die Todesstrafe für korrupte Politiker. Doch die Antikorruptionsbewegung insgesamt hat das kaum geschwächt. Einer seiner Mitarbeiter, der frühere Steuerbeamte Avind Kejrival, trennte sich nach einem Streit von Hazare und beschloss, einen neuen Weg zu gehen: Er gründete eine Partei mit Namen Aam Aadmi (»Partei des kleinen Mannes«), will nun das System von innen verändern. Dem charismatischen und dynamischen Kejrival, erst Anfang vierzig, trauen die indischen Medien zu, dass er die indische Politik zumindest ein wenig aufmischen könnte.
    Inzwischen hat die Anti-Establishment-Bewegung ein neues, vereinendes Thema gefunden: die Gewalt gegen Frauen. Besonders ein Fall erschütterte die Nation: die Vergewaltigung der 23-jährigen Physiotherapie-Studentin Jyoti Singh Pandey, die in Neu-Delhi von fünf Männern in einem öffentlichen Bus so brutal missbraucht wurde, dass sie 13 Tage später ihren Verletzungen erlag. Die junge Frau stand für alles, was aufgeschlossene, weltoffene Inder an ihrem Land so gut finden, wessen sie sich rühmen: Sie kam aus einem verarmten Kaff, wagte sich mutig in die Großstadt, wo sie Aufstiegschancen sah, war dabei, durch Begabung und Fleiß an der Seite ihres Freundes den Weg nach oben zu schaffen. Sie schminkte sich, sie kleidete sich westlich, gab sich selbstbewusst – eine Aufsteigerin, wie es sie inzwischen millionenfach in den Metropolen gibt, eine Herausforderung für die jungen Männer, die das alles nicht schaffen. Und wie es im Widerspruch zur traditionellen Rolle der Frau steht: Mädchen gelten da größtenteils als Belastung für die Familie. Bis zu zwölf Millionen Mädchen-Föten wurden nach Schätzungen unabhängiger internationaler Organisationen in Indien während der letzten dreißig Jahre abgetrieben; 47 Prozent aller Inderinnen heiraten, bevor sie volljährig sind, je jünger die Braut, desto weniger müssen die Eltern normalerweise für die Mitgift bezahlen.
    Sexuelle Gewalt gegen Frauen galt in dem Land lange als Kavaliersdelikt. Bei den meisten Vergewaltigungen kam es nicht zu juristischen Konsequenzen, weil der soziale Druck auf die Familien der Opfer so immens war. Die Folge: Bei knapp 90 Prozent der im Jahr 2011 erfassten Gewaltdelikte in Indien waren eine oder mehrere Frauen das Opfer, alle 18 Stunden fand zuletzt in der Hauptstadt eine Vergewaltigung statt. Und auch im Fall der Studentin zeigte sich die politische Klasse zunächst eher achselzuckend desinteressiert. Als ihre Kommilitoninnen auf die Straße gingen, mussten sie sich von Abhijit Mukherjee, dem Sohn des Präsidenten, zunächst sogar verspotten lassen: Die seien doch »ausgestopft und angemalt«, befand er, und suchten nur die Aufmerksamkeit der Medien. Doch dann strömten immer mehr Menschen auf die Straßen, zündeten Kerzen an,

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