Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Manmohan Singh oder Xi Jinping. Die brasilianische Präsidentin ist in mancher Beziehung dazu ein Gegenentwurf: zwar auch analytisch, aber häufig dozierend und aufbrausend.
Auf einer Skala der von Merkel besonders geschätzten Eigenschaften steht eine ganz weit oben: der Mut. Rousseff besitzt diese Eigenschaft, vielleicht nach Meinung der Deutschen sogar im Übermaß. Denn diese Art von existenzgefährdender Tapferkeit ist nicht die Sache der Kanzlerin, die stets die Dinge gerne ausbalanciert, abwägt, die mit sich und ihrer Vergangenheit im Reinen ist. Andererseits weiß Rousseff durchaus um ihre eigenen Defizite, um ihre mangelnde Dialogbereitschaft, ihr Aufbrausen, ihr Mangel an taktischer Geduld. Sie hadert mit sich und ihrer Vergangenheit, sagen Vertraute. Weil da vielleicht doch irgendetwas gewesen sein könnte, ein Verrat damals in der Zelle während ihrer Alptraumnächte, eine Schwäche in den Folterstunden. – Es könnte sein, dass sich die beiden Politikerinnen vielleicht deshalb nicht mögen, weil sie gern etwas von den bewunderten Fähigkeiten des jeweils andern hätten.
Dilma Rousseff hat den Bundespräsidenten Joachim Gauck mit Ehren empfangen lassen und ihn zum Start des deutsch-brasilianischen Jahres Mitte Mai 2013 herzlich in São Paulo begrüßt. Sie hegt keinen Groll gegenüber Deutschland, weiß um die große Bedeutung der Wirtschaftsbeziehungen (obwohl sie denkt, dass die Deutschen immer noch die Investitionsmöglichkeiten in ihrem Land unterschätzen, Lateinamerika im Vergleich zu Asien stiefmütterlich behandeln). Kaum etwas liegt ihr mehr am Herzen als die Ankurbelung der brasilianischen Ökonomie, die nach langen Boom-Jahren sehr enttäuschende Monate erlebt. Nur zwei Themen genießen eine ähnlich hohe Priorität: die Bekämpfung der Korruption in der Politik und die Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit in ihrer Heimat.
Sie hat ihren Feldzug gegen die Vetternwirtschaft mit Verve begonnen. Seit ihrem Amtsantritt im Januar 2011 hat sie schon sechs Kabinettsmitglieder wegen Korruptionsvorwürfen vor die Tür gesetzt, darunter die Minister für Arbeit, Tourismus und Sport. Doch Rousseff wird von dem Problem immer wieder eingeholt. Und was die Sache so unangenehm für sie macht: Die Affäre rückt immer näher an ihre eigene Partei heran – sogar bis zu ihrem verehrten Gönner, ihrem politischen Ziehvater und Vorgänger im Amt, Lula da Silva.
Seine Anfänge hat der Skandal im Jahr 2005, das ganze Land kennt ihn nur unter dem Stichwort Mensalão . Das bedeutet etwa »großer zusätzlicher Monatslohn« und umschreibt die umfassende Bestechung von Abgeordneten, um so Abstimmungsmehrheiten zu sichern. Dieses Verfahren gab es wohl schon, bevor die Arbeiterpartei an die Macht kam, es ist eine Art Spezialität der brasilianischen Politik. Man nennt das in Südamerika Clientelismo , Abgeordnete wechseln während einer Legislaturperiode gern die Partei, manchmal sogar mehrfach. Neue Konstellationen erfordern neue Hinterzimmer-Deals. Für die als Saubermänner auftretenden Linksliberalen von der PT ist es aber besonders peinlich, mitgemacht zu haben.
Dilma Rousseffs gebührt das Verdienst, die Aufklärung nicht verhindert, sondern entschieden vorangetrieben zu haben, obwohl das die eigenen Reihen schwächt. Verantwortlich für die ungewöhnlich konsequente Strafverfolgung zeichnet Joaquim Barbosa, der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Barbosa ist derzeit neben Ex-Präsident Lula wohl die populärste öffentliche Figur in Brasilien. Der Schwarze, Sohn eines Maurers, aufgewachsen mit sieben Geschwistern in einem Slum, hat sich das Studium mit nächtlichen Putzarbeiten und als Schriftsetzer verdient, bevor ihn ein Stipendium an die Columbia University und an die Pariser Sorbonne brachte, und im Anschluss daran bis an die Spitze der Juristen seines Landes. Präsident Lula hat ihn ins Amt berufen. Aber das hat Barbosa, heute Ende fünfzig, nicht zu falscher Dankbarkeit verführt – seine Staatsanwälte ermitteln bis in die höchsten Regierungsämter. Sogar Lula selbst muss damit rechnen, dass seine Rolle bei den Bestechungszahlungen untersucht wird. (Sein Umfeld bestreitet jedes Fehlverhalten Lulas vehement, Beweise einer Verwicklung existieren nicht.) Die Medien sprechen vom »Prozess des Jahrhunderts«, der Fernsehkanal TV Justiça überträgt original.
Erste Urteile sind gefällt. Obwohl kein Politiker bisher physisch hinter Gittern gelandet ist, steht schon jetzt fest: Das Land, dem
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