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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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einst Frankreichs Präsident Charles de Gaulle öffentlich »jede Ernsthaftigkeit« abgesprochen hat, ist ein seriöser Staat geworden, ein Gemeinwesen, in dem niemand über dem Gesetz steht. Nimmt man das als Maßstab, dürfen sich Mandatsträger hier künftig weniger erlauben als in den meisten anderen Demokratien. Wie sehr das die Menschen schätzen, lässt sich an der Popularität des Gerichtspräsidenten ablesen: Barbosa wurde die höchste Ehre zuteil, die man hierzulande kennt, und die ansonsten nur Filmstars und Fußballgöttern vergönnt ist: Die Karnevalisten machten ihn zu ihrer Lieblingsfigur, zum Volkshelden. Barbosa-Masken sind der Schlager: Die Cariocas zogen sich kein anderes Gesicht so gern über wie seines.
    Und noch etwas zeigte sich: Die Wähler lasteten die bisherigen Korruptionspraktiken nicht einer bestimmten Partei an, sondern hielten sie für ein allgemeinpolitisches Phänomen. In São Paulo und Niterói gaben sich Ende 2012 die jeweiligen Konkurrenten der PT alle Mühe, eine direkte Verbindung zwischen den Bürgermeisterschaftskandidaten der Arbeiterpartei und den schuldig gesprochenen Ex-Parteifunktionären zu belegen. Das Thema zog nicht. Die Arbeiterpartei siegte; landesweit setzten sich in 71 Kommunen mehr PT-Kandidaten als bei der letzten Wahl durch.
    Die Prominentesten unter den 25 Verurteilten im Mensalão-Prozess gehen mit dem Richterspruch unterschiedlich um. Lulas Stabschef José Dirceu (zehn Jahre und zehn Monate Haftstrafe) lässt nur seine Anwälte sprechen und hat sich ganz zurückgezogen. Der ehemalige Schatzmeister der PT , Delúbio Soares (neun Jahre), beklagt sich lautstark über die von ihm vermutete »Unfairness« und geht selbstverständlich wie alle anderen auch in die Berufung. Ein ganz besonderer Fall ist José Genoíno, der ehemalige Präsident der Arbeiterpartei, der für sechs Jahre und elf Monate in den Knast soll – ihn habe ich im Herbst 2012 bei einem Besuch in seinem Haus in São Paulo selbst kennengelernt.
    Genoíno, grauer Bart, Pullover über Jeans, gibt sich ganz jovial: »Darf es Kaffee oder Tee sein?«, fragt er mehr als einmal, »und ja, natürlich führe ich Sie gern durch mein bescheidenes Häuschen.« Nur manchmal verraten ihn seine Augen. Die wandern misstrauisch in alle Richtungen, als müsse er jederzeit mit unerwünschten Besuchern rechnen. Er dürfe sich wegen der laufenden Ereignisse und den Anweisungen seiner Anwälte nicht auf detaillierte Diskussionen des Mensalão-Verfahrens einlassen, »obwohl ich das sehr gern täte«. Ganz generell: Er halte die Anklage für eine Schikane. Er sei völlig unschuldig. Er habe nie irgendwelche Gelder veruntreut oder sich gar persönlich bereichert. »Schauen Sie sich doch meine beengten Wohnverhältnisse an!« Nur – um Abkassieren in eigener Sache geht es in dem Verfahren ja gar nicht, sondern um systematische politische Bestechung. Solche feinen Unterschiede mag er nicht gelten lassen. Seine japanischstämmige Frau bestätigt ihn in seiner Argumentation und klatscht in die Hände, als er sagt: »Sie können sicher sein, ich werde nicht ins Gefängnis gehen müssen.«
    Genoíno hat eine faszinierende Lebens- und Leidensgeschichte. Ähnlich wie beim Arbeiterführer Lula da Silva, den er zwei Jahrzehnte als enger Vertrauter von seiner Wahlniederlage Anfang der Achtzigerjahre bis zum Triumph 2003 begleitete, überschneiden sich bei ihm die großen Linien der brasilianischen Geschichte und Politik; steht er für die Querverbindungen von Militärdiktatur und Widerstand, Demokratie und Selbstverwirklichung. Und dieser José Genoíno spielt auch eine wichtige Rolle bei der anderen zentralen Aufgabe, die sich die Präsidentin neben der Bekämpfung der Korruption gestellt hat: bei der Aufarbeitung der brasilianischen Diktatur.
    Er kommt nicht wie Rousseff aus der Mittelklasse, sondern wie Lula von ganz unten. Ein Arbeiterkind aus der tiefsten Provinz. Fünfzehn war er, als er zum ersten Mal ein paar Schuhe trug. Ein Wissbegieriger, der Bücher aus Geschäften klaute, alle, die er kriegen konnte. Der die Mao-Schriften verschlang und die Welt verändern wollte. Der während der grausamen Zeiten der Militärdiktatur Kontakte zum Untergrund suchte. Und als Student dann, gerade Anfang zwanzig, den entscheidenden Tipp von seinen maoistisch-kommunistischen Freunden bekam: Man musste die Diktatur nicht primär in den Städten, sondern vom weiten Land her bekämpfen. Mithilfe der Bevölkerung im Amazonas-Gebiet. Wenn die

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