Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Guerilleros dort nach einem Wort des Großen Vorsitzenden »wie Fische im Wasser schwammen«, hätten sie alle Möglichkeiten zur Machtübernahme. Eine chinesische Revolution auf brasilianisch, so die Theorie – die Praxis sah ganz anders aus.
Der junge Intellektuelle landet in einem Umfeld, das ihn und seine vier bis fünf Dutzend Mitstreiter völlig überfordert. Die Region Araguaia (»Papageienschnabel«) ist dünn besiedelt, dichter Urwald umschließt die Dörfer. Die Kleinbauern, Holzfäller und Fischer kämpfen um ihre tägliche Existenz und sind schwer für eine Auseinandersetzung mit den Militärs zu rekrutieren. »Viel mehr als dreißig bis vierzig Sympathisanten konnten wir nicht für den bewaffneten Kampf gewinnen«, sagt Genoíno im Rückblick. Die meisten seiner in den Urwald entsandten Mitstreiter waren »Paulistas« aus Brasiliens Großstadt-Dschungel São Paulo.
Sie sind bei ihrem Einsatz ständig von Tropenkrankheiten bedroht, der Waffen-Nachschub ist erratisch. Einmal die Woche hört man mit den Tranistorradios »Radio Tirana« und erhofft sich über Codewörter genauere Anweisungen, wo es gegen die Militärs zuzuschlagen gilt. Genoíno erweist sich für Sprengstoffanschläge und den Einsatz am Gewehr als wenig tauglich. Er wird mit Botengängen betraut, soll die versprengten Kämpfer mit Kassibern auf dem Laufenden halten. Es dauert nur wenige Monate, bis er in eine Falle tappt; oder von einem seiner Mitstreiter verraten wird – im Nachhinein lässt sich das nicht mehr genau entschlüsseln. Die Militärs bringen ihren Gefangenen in die Hauptstadt, dort foltert man ihn. Das ganze Programm. Genoíno gibt nicht einmal vor, ein Held gewesen zu sein. Ja, er habe – anders wohl als Dilma Rousseff – unter schlimmsten Qualen Namen und Daten verraten. »Aber nicht so, dass sie damit viel hätten anfangen können, glaube ich jedenfalls«, sagt er vorsichtig.
Drei Jahre sitzt er im Gefängnis, glaubt schon gar nicht mehr an die Freiheit und einen Neuanfang. Dann gehen eines Tages die Gefängnistore auf. Ganz wörtlich für ihn, und im übertragenen Sinn auch für die ganze Nation: Brasilien befreit sich nach zwei Jahrzehnten von der Militärdiktatur. Genoíno wird wieder politisch aktiv. Mit den Kommunisten hat er gebrochen, seine neue Heimat sieht er bei der Arbeiterpartei. Und dort schafft er dann über ein Abgeordnetenmandat und die Protektion von PT -Chef Lula schnell den Aufstieg.
Genoíno ist geradezu besessen von der Guerilla-Zeit. Er zeigt dem SPIEGEL -Korrespondenten Jens Glüsing und mir bei unserem Besuch in seinem Häuschen in einer Mittelklassegegend von São Paulo auch sein Arbeitszimmer, jenseits eines kleinen Innenhofs gelegen. Es ist vollgepfropft mit Büchern und Zeitungsausschnitten, die den Kampf am Amazonas-Nebenfluss in allen Details beschreiben. Er ist wohl nie richtig von den Guerillatagen weggekommen, nie ganz in der Demokratie angekommen: einer, der immer noch seinen Weg sucht. Was keinesfalls heißt, dass der ehemalige Parteivorsitzende nicht ein geschickter und wenig zimperlicher Taktierer geblieben wäre: Als im Januar 2013 ein Platz im Abgeordnetenhaus frei wird, bewirbt er sich als Nachrücker – und schafft es in die hohen Hallen der Demokratie. Formal ist das in Ordnung, moralisch aber doch höchst fragwürdig.
Genoíno steckt die Kritik an seiner Person anscheinend unbeeindruckt weg. Er hat immer nur nach seinen Regeln gespielt. In dieser Beziehung ist er wohl keinem so ähnlich wie seinem Erzfeind, dem Mann, der ihn am großen Fluss gejagt hat und dem er später unter erstaunlichen Umständen auch in der Politik wiederbegegnen sollte: Genoínos Nemesis. Der Kämpfer von der anderen Seite, der Seite des Militärs. Der Offizier, der folterte, tötete und Rebellen die Köpfe abschlug, ein ungeheuer grausamer, rücksichtsloser Fürst der Finsternis. Er hat dem gefangenen Guerillero damals persönlich die Handschellen angelegt. Fast vierzig Jahre nach dem großen Schlachten soll dieser Sebastião de Moura alias »Curió« nun vor Gericht. Auch seine Geschichte gehört zu denen, die man kennen muss, will man Brasilien begreifen.
Der Curió ist dort beheimatet, wo sich die Amazonas-Wälder öffnen und ein wenig ihre Undurchdringlichkeit verlieren. Schwarz ist sein Rücken, haselnussbraun sein Gefieder; mal hell und glockengleich, mal düster und klagend klingt sein Gesang. Die Urwaldbewohner fangen ihn gern, weil der Curió nie langweilt und auch in der Gefangenschaft
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