Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
hätte er nicht eine besondere Botschaft für sie gehabt: Es kam künftig nicht mehr auf die adlige Herkunft an, hämmerte Konfuzius den Seinen ein. Jeder konnte in diesen Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs zu den »Berühmtesten und Einflussreichsten« im Land aufsteigen, solange er nur Bildung und Wissen erwarb und sich an einen sozialen Kodex hielt. Das Studium war für Konfuzius Voraussetzung für das Verständnis der Ordnung des Himmels und der Menschen – und für die begründete Veränderung dieser Ordnung: »Lernen ohne zu denken ist sinnlos; aber denken ohne zu lernen ist gefährlich.«
Die treuesten Jünger notierten diese Worte, trugen die Gedanken weiter. Der Legende nach hielten sie drei Jahre lang Wacht an Konfuzius’ Grab, nachdem ihr Meister 72-jährig verstorben war. Schon bald danach begann das Auf und Ab, die Neuinterpretation des Weisen, das Zurechtbiegen seiner Gedanken für machtpolitische Zwecke – eine Entwicklung, die bis heute anhält. Denn eines hatten die Herrscher der Reiche zu allen Zeiten erkannt: Dieser Meister Kong eignete sich bestens für jede Form des ideologisch-religiösen Unterbaus ihrer jeweiligen Regierungsform. Man musste sich nur die passenden Ideen herauspicken, nur den Schwerpunkt seiner Lehre »richtig« legen.
Die Han-Dynastie machte im 2. Jahrhundert vor Christus den Konfuzianismus zur offiziellen Staatsideologie. Die ersten Kaiser des geeinten Chinas verfolgten die Konfuzianer entweder blutig, weil sie Gefahren in jeder Art des selbstständigen Denkens sahen. Oder sie bedienten sich höchst selektiv am Gedankengut des Weisen. Alles, was ihrer strikt autoritären Herrschaft nutzte, wurde in den Vordergrund gestellt – etwa, dass der Untertan dem Herrscher zu gehorchen habe, der Sohn dem Vater. Dass sich der Kaiser das Vertrauen seines Volkes verdienen musste, dass er gut und gerecht regieren musste, weil er sich ansonsten mit einem legitimen Aufstand des Volkes konfrontiert sehen könnte, wurde verdrängt. Ebenso fiel bei den meist mit harter Hand Regierenden unter den Tisch, dass Waffen weniger wichtig waren als Nahrungsmittel für die Bevölkerung. Konfuzius blieb über zwei Jahrtausende im Wesentlichen auf den staatstragenden, hierarchiebetonten Bestandteil seiner Lehren reduziert, auf seinen angeblichen Konservatismus. Mit einer Ausnahme: Die Herrscher nahmen sich sein progressives Erziehungs- und Bildungsideal (»Sie soll allen zugänglich sein«) weitgehend zu Herzen. Ab der ersten Staatsprüfungbot sich zumindest theoretisch selbst dem Sohn eines Handwerkers oder Bauern die Chance, durch Fleiß und Begabung zu hohen Beamten am Hof auszusteigen. Es war auch in diesem Punkt Eigennutz, der die Kaiser antrieb: Sie bestimmten die imperialen Lehrpläne, sie kontrollierten das Gedankengut, sie verschafften sich den Zugriff auf die besten Köpfe des Landes. So glaubten sie, am besten Kontinuität zu garantieren, ihre Herrschaft am Laufen halten zu können. Wie immer man ihre Regierungsleistung im Einzelnen beurteilt: Sie sicherten lange – dank ihrer Rolle als autoritäre Überväter – die Staatseinheit und verhinderten das von allen so sehr gefürchtete Chaos. Sie machten allerdings die vom Meister geforderte Einhaltung der Regeln zum Selbstzweck, wo doch für Konfuzius die Ordnung nicht als erstarrtes Ritual wichtig war, sondern erst die Voraussetzung dafür sein sollte, dass sich Freiheit entfalten konnte.
Ich habe mich mit Kong Xianglin verabredet, dem Museumsdirektor von Qufu, einem Experten, den mir alle empfohlen haben. Es ist ein brütend heißer Tag im August, die Sonne brennt so intensiv vom Himmel, als wolle sie auch noch den letzten Getreidehalm auf den nahen Feldern versengen. Einen Vorteil hat die Jahreszeit allerdings gegenüber Herbst und Frühling. Die Touristen bleiben der Stadt fern. Man muss sich nicht zwischen fähnchenschwingenden chinesischen Gruppen durch die engen Gassen zwängen, die jeden Stein – immer den Freundeskreis im Vordergrund – mit ihren Kameras festhalten.
Der Museumsdirektor verspätet sich, hält dann aber für den Gast ein besonderes Privileg bereit: Er lädt abends in die Privatzimmer des Stammhauses der »Ersten Familie« ein, östlich des Tempels gelegen. Es ist ein verwirrend schönes, riesiges Areal mit Gärten und Höfen, mit Dutzenden Gebäuden voller Banketträume, Schatzkammern und Andachtshallen. Viele Jahrhunderte waren die Nachfahren des Meister Kong besonders privilegiert. Sie trugen Fürstentitel
Weitere Kostenlose Bücher