Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Glauben – und ihren Geschäften – nachgehen. Sie sind ganz überwiegend Sunniten, die, anders als etwa viele heißblütige persische Schiiten, nicht von einem Gottesstaat träumten. Imam Abullah Hajji wog seine Worte sorgfältig, zumal bei dem Gespräch Aufpasser zugegen waren. Was er am Schluss des Interviews sagte, klang dann aber doch wie eine Distanzierung von staatlichen Autoritäten. Man konnte es sogar als eine Warnung verstehen: »Es gibt keine Loyalität außer der gegenüber Allah.«
Ich habe später noch die Städte Urumqi und Turfan in Xinjiang besucht, nach Kaschgar bin ich jedoch nicht mehr zurückgekommen. Ich drängte mich nicht danach. Vielleicht war das ein unjournalistischer Impuls: Aber diesen Traum von einer Stadt mochte ich, nach den schrecklichen Erfahrungen im »restaurierten« Lhasa, nicht auch noch zerstört sehen. Ich habe Bekannte in der Stadt, die mir regelmäßig Nachrichten zukommen lassen. Sie klangen zunehmend beunruhigt. Die neuen Eisenbahnverbindungen, die von der Partei als Fortschritt bejubelt würden – nicht mehr als eine neue Kontrollmöglichkeit der KP , genutzt zur weiteren Einschleusung han-chinesischer Funktionäre, Geschäftsleute und Facharbeiter, die Einheimische unterdrückten und ihnen lukrative Jobs wegnähmen. Die Einnahmen aus der Förderung der Bodenschätze gingen praktisch direkt nach Peking, die Lop-Nor-Wüste mit ihren Atomanlagen sei ohnehin off limits für Lokale. Die Modernisierungsinitiativen der KP seit 2010 – sie seien nichts anderes als ein Versuch, die eigenständige Geschichte der Stadt auszulöschen, sie im Wortsinne auszumerzen und einzuebnen. Und tatsächlich wurden inzwischen 80 Prozent der Altstadt mit ihren Lehmhäusern und Medressen plattgemacht, »aus gesundheitlichen Gründen und wegen der Erdbebengefahr«, wie es offiziell heißt. Überall entstehen nun Wohnblocks, die Straßen sind erweitert, was dem Verkehr hilft, aber natürlich auch der Kontrolle.
»Kaschgar wird bald so aussehen wie eine han-chinesische Allerweltsstadt«, schrieb ein Freund. Da hat er sicher etwas übertrieben: Wie in Lhasa wollen die KP -Planer auch in Kaschgar die von ihnen bestimmten »kulturellen und religiösen Relikte« pflegen, sie für Touristen aufpolieren. Neben dem buddhistisch-tibetischen Disneyland auf dem Dach der Welt wird so etwas wie ein islamisch-sinkiangisches, möglichst keimfreies Disneyland in Chinas Wildem Westen entstehen. Die neueste Maßnahme der KP ist ein »Sicherheits- und Stabilitätsplan«, der im August 2012 verkündet wurde: Die Zentralregierung wies die lokalen Verwaltungen und Schulen in Xinjiang an, das Fasten während des islamischen Fastenmonats Ramadan zu verbieten und »besondere religiöse Veranstaltungen wie Moscheebesuche während der Arbeitszeiten« zu untersagen. Außerdem wurden Sozialleistungen für Frauen armer Familien mit der schriftlich zu akzeptierenden Bedingung verknüpft, keine Kopftücher mehr zu tragen. Kenner der Region glauben, dass mit solchen Maßnahmen junge Uiguren in die Hände radikaler Kräfte getrieben werden. Zwar dürften chinesische Berichte über Gräueltaten der »Islamischen Front Turkestan« aufgebauscht sein, aber auch westliche Geheimdienste bestätigen die Existenz der Untergrundkämpfer und ihre Kontakte zu ausländischen al-Qaida-Gruppen. Ende Juni 2013 forderten neue Unruhen im Westen von Xinjiang wieder 27 Tote.
Und so zeigt sich das religiöse Erbe Chinas in jeder Beziehung als Fluch für die Regierenden: Der Konfuzianismus kann zwar als eine positive Grundlage für die »Harmonisierung« der Gesellschaft wirken, Werte vermitteln und vertiefen. Als Quasi-Staatsreligion birgt er aber auch große Risiken: Je mehr Intellektuelle sich intensiv mit den Gedanken des Weisen beschäftigen, desto wahrscheinlicher wird auch, dass sie seine subversive Seite erkennen; und je plumper die Staatsmacht Meister Kong auf seine rein hierarchische Lehre reduziert, desto angreifbarer macht sie sich. Denn er hat auch die Regierenden strengen Kontrollkriterien unterzogen: »Nicht das soll einen bekümmern, dass man kein Amt hat, sondern das muss einen bekümmern, dass man dafür tauglich werde. Nicht das soll einen bekümmern, dass man nicht bekannt ist, sondern danach muss man trachten, dass man würdig werde, bekannt zu werden.«
Der Kommunismus als übergreifende Ideologie, als Religionsersatz, hat längst ausgedient, trifft in diesen Zeiten der Selbstbereicherung und Selbstbeweihräucherung der
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