Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Kader nur noch auf Zynismus. Das wissen auch die Regierenden. Umso mehr fürchten sie Buddhismus und Islam, und vor allem deren Möglichkeiten, die Menschen zusammenzuführen, zu organisieren, zu motivieren. Die KP steckt in einem Dilemma. Sie glaubt, die Religionen kanalisieren zu müssen – und sieht sich in vielen Regionen einem religiösen Revival gegenüber. Das einzige Mittel neben der Repression, das den Oberen dabei einfällt, ist die Erhöhung des Lebensstandards – der Konsum soll ablenken vom Glauben. Immer wieder betonen sie, wie überdurchschnittlich hoch das prozentuale Wirtschaftswachstum gerade in den Autonomen Gebieten Tibet und Xinjiang ist. Wahrscheinlich stimmt das sogar.
Aber da ist noch etwas, was die Kommunistische Partei nicht begreift: Die Menschen der traditionell tiefgläubigen Regionen zwischen Kaschgar und Shigatse, Urumqi und Lhasa bewegt nicht nur das neueste Fernsehgerät, das neueste Mofa, das neueste Handy, das neueste Schmuckstück. Sie haben andere Prioritäten. Gott ist für sie – ob man das nun gut findet oder nicht – weit mehr als Geld, Gold und Google oder die Partei. Er ist ihr Leben.
8 INDIEN
Wo die Götter wohnen
Die Schriften der Hindus berichten von einem ganz besonderen Ort der Götter am heiligen Ganges. Lord Shiva hat ihn sich herausgesucht, um dort der Legende nach auf einer hellen Säule herabzusteigen von den Höhen des Himalaja und sein Hauptquartier zu errichten. Kashi, »Stadt des Lichts«, hieß dieser Ort in den Tagen seiner Gründung vor wohl über 3000 Jahren, dann lange Zeit Benares, heute nennt man ihn Varanasi. Seit Urzeiten strömten Pilger, Philosophen und Sinnsuchende aller Art hierher. Weise alte Männer waren darunter wie Buddha und Shankara, auch junge Gläubige, die kamen, um die Veden und Sanskrit zu studieren. Stolze asketische Mönche, die freiwillig zölibatär lebten, sammelten sich hier in den Rasthäusern, Dharmashalas genannt, um in den Ashrams zu beten; verzweifelte Witwen, deren Liebste von ihnen gegangen waren, suchten Trost an den Ghats, den geweihten Treppen, die sich steil und wie Ausläufer von Wurzeln zum Fluss hinunterziehen. Die Alten und die Kranken trafen sich schon immer hier, um die letzten Tage in den besonders dafür angelegten Sterbehäusern zu verbringen, den Kashivasas . Und sie tun es bis heute. Denn in Varanasi zu sterben und seine Asche in den Fluten verstreut zu bekommen, verheißt dem Gläubigen nach wie vor Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten. Aber auch wer noch fest im irdischen Kreislauf des Samsara gefangen ist, wird durch das Bad im Ganges von den Sünden gereinigt; bereits ein Schluck des Wassers verheißt ein großes Stück Befreiung. Varanasi ist für Hindus, was Jerusalem und Mekka für die monotheistischen Religionen bedeutet – das Zentrum all ihres Sehnens, ihres Handelns, ihrer Existenz.
Schon vor dem Sonnenaufgang schiebt sich ein Zug von Menschen durch das Gewirr der engen Gassen, wie einem Fellini-Film entsprungen: grotesk übergewichtige alte Frauen, in grellrotes Musselin drapiert, junge Schönheiten in schimmernder Seide oder zerschlissenem Polyester, halbnackte filzhaarige Bettler, über und über mit weißer Asche beschmiert, glatzköpfige heilige Sadhus mit riesigen ockerfarbenen Schirmen aus getrockneten Palmblättern und dem charakteristischen Dreizack, schüchterne kleine Verkäuferinnen mit Schalen von Kokosnussscheiben, Zinnoberpulver und Hibiskusblüten, fluchende Rikschafahrer, die Kühe umkurven. Alle zieht es aus dem Labyrinth der Innenstadt hinunter zu den Stufen am Fluss. Zum Ritual der Waschung. Zum Gebet. »Und ich bin aller Dinge Anfang und aller Dinge Ende, ich bin das Versprechen und die Erinnerung, die Beständigkeit und die Barmherzigkeit. Ich bin das Schweigen über alle Geheimnisse der Welt«, murmeln die Entrückten, wenn sie mit ihren Zehen eintauchen. Und sie werfen nach einem alten Ritual Rosenblätter und Ringelblumen in die Höhe, die auf kalte Steine regnen und dort von gefräßigen Ziegen zermalmt werden.
Delhi wurde von den frühen muslimischen Dynastien des 12. und 13. Jahrhunderts zur Blüte gebracht. Die große Handelsstadt Madras (das heutige Chennai) wurde im 16. Jahrhundert von portugiesischen Seefahrern gegründet und von Briten zur Handelsstadt ausgebaut. Kochi (das frühere Cochin) prägten im 17. Jahrhundert wesentlich jüdische Kaufleute mit. Shimla gestalteten die Kolonialherren aus London nach europäischen architektonischen Mustern
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