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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Mitte des 19. Jahrhundert als ihren Sommersitz, um der Hitze der Tiefebenen zu entfliegen. Überall dort existieren inmitten der »Exotik« vertraute Fixpunkte für unsere Augen. Varanasis Ursprünge verlieren sich im Nebel der Historie, und es ist sicher nicht das Werk fremder Herren. Vielleicht schien mir deshalb Varanasi immer die »indischste«, die am fremdesten anmutende, am schwersten zu entschlüsselnde Stadt des Subkontinents zu sein.
    Jedes Mal nehme ich gleich nach der Ankunft die Pilgerroute am Ganges, drei Kilometer entlang des Flusses vom Assi Ghat bis zum Dasaswamedh Ghat, und dann wieder zurück zum Rashmi Guest House. Die Herberge nennt sich reichlich pompös »A Palace on the River«, aber die Dachterrasse über dem Fluss bietet tatsächlich spektakuläre Ausblicke, auf ein Kaleidoskop, so bunt und vielschichtig, so abschreckend und traurig wie die ganze Menschheit: Varanasi wirkt trotz einiger moderner Einsprengsel wie aus der Zeit gefallen. Für die Gläubigen ist es Ort der Schöpfung, zentraler Punkt des sakralen Universums, Schlüssel des Hinduismus. Weit mehr als ein irdisches Gemeinwesen – eine Zwischenstation, ein Tor, das Diesseits und Jenseits verbindet.
    Leben und Tod vertragen sich hier bestens, und das weckt zwiespältige Gefühle. Varanasi kann manchmal sehr anstrengend sein, eingeklemmt in den Ghats zwischen den schmutzstarrenden Bettlern mit ihren leprösen Verstümmelungen, den aufdringlichen Möchtegern-Stadtführern (»Tempeltänzerinnen inklusiv!«) und Instant-Sanskritlehrern: »Ganz ohne Grammatik, drei Tage, nur 125 US -Dollar!« Manchmal drohten diese Eindrücke über mir zusammenzuschlagen. Meist floh ich dann zu einem der Lassi-Stände und schlürfte im Schatten, gegen alle Vernunft, einen der mit dubiosen Eiswürfeln gekühlten Joghurt-Säfte. Blätterte in einem schon ziemlich abgewetzten Benares-Taschenbuch, das in meiner Hosentasche steckte, mein ständiger Begleiter, ein Klassiker. Diana L. Eck, eine amerikanische Indologin, hat Benares: Stadt des Lichts geschrieben und darin auch die Stimmen der ersten westlichen Besucher gesammelt.
    Beispielsweise die des britische Missionars James Kennedy aus dem 18. Jahrhundert, den alles hier abstieß: »Wild, unnatürlich, erschreckend ist dieses Benares, ein völliger Mangel an Verfeinerung schlägt einem entgegen. Es gibt nichts, das die Menschen läutern könnte, alles ist darauf angelegt, ihren Geschmack zu verderben und ihren Charakter zu degradieren.« Ganz anders der deutsche Graf Keyserling, der Europa kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließ: »Hier spüre ich mich dem Herzen der Welt so nah wie nie zuvor, hier ist mir täglich, als müsste mir bald die äußerste Erleuchtung kommen. Die Atmosphäre der Andacht, die über dem Strome schwebt, ist unwahrscheinlich stark, stärker als in jedem Gotteshause, das ich je besucht habe. Jedem angehenden christlichen Geistlichen wäre es anzuraten, ein Jahr des Theologiestudiums draufzugeben und diese Zeit am Ganges zu verbringen.« Der britische Forscher und Missionar M. A. Sherring lag mit seiner Meinung irgendwo dazwischen, fasziniert und abgeschreckt zugleich: »Wenn der Sand der Zeit verrinnt, kommen sie von allen Richtungen hierher, getröstet durch die irreführende Lüge, ihre Sünden seien vergeben, ihre Seelen gerettet. Und sie verehren ungeschlachte Idole, Monstren des Linga und andere unanständige Figuren.«
    Abends, wenn ich mich dann im schmalen Bett des »Palace« wälzte, quälten mich oft die Eindrücke des Tages, und ich wusste, wovon der hin- und hergerissene Benares-Reisende Mark Twain sprach, wenn er eine »wilde Herde von Alpträumen« beklagte, die nachts in seinen Schlaf polterten. Aber einfach nur deprimierend ist Varanasi selten. Im Labyrinth der Altstadt übertreffen sich die Händler mit Sonderangeboten für Snacks, Blumen und Devotionalien, und in den Handwerksbetrieben mit ihren insgesamt über hunderttausend Webstühlen werden weit weniger Leichentücher hergestellt als kostbare Seidensaris für Hochzeiten. Die Bharat-Werke produzieren in den Außenbezirken dampfende Diesel-Lokomotiven, in den Innenstadt-Gässchen klopft und hämmert es, Kupferkessel und Silberschmuck entstehen, einfaches Holzspielzeug für Kinder, komplizierte Holzinstrumente für Orchester-Profis. Aus den berühmten Musikschulen der Stadt dringen keine Requien, sondern wirbelnde Sitarklänge, inspiriert von einem der berühmtesten Söhne der Stadt, dem verstorbenen

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