Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Opfer. Wenn Shiva wütet und Kali tötet, ist Vishnu gefragt, der die Weltordnung und ihre tugendhaften Vertreter beschützt, so gut es eben geht. Er besucht die Erde auf seinem Reittier, dem halb mensch-, halb adlergestaltigen Garuda, schleudert seinen Diskus ( Chadra ) gegen teuflische Dämonen, bläst das Schneckenhorn ( Sabkha ) und fördert den Lotus als Symbol der Weisheit und Reinheit. Aber gegen Wollust, Neid und das Böse der Welt kann er nicht immer ankommen.
Es gibt wesentliche Abläufe im Welten- und Zeitengefüge, die der Mensch beeinflussen kann, und andere, oft noch wesentlichere, denen er unterworfen ist. Der Kosmos gehorcht im Hinduismus einem ewigen Weltgesetz. Dieses Dharma weist allen Lebewesen in einer festgelegten Hierarchie ihren unabänderlichen Platz zu. Ohne das Kastenwesen sei ein Zusammenleben nicht möglich, folgern daraus manche. Andere sagen, diese Hierarchie sei eher metaphysisch gemeint.
Das höchste spirituelle Ziel aller Lebewesen ist die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Den Wechsel der Seelen von der einen zur anderen Gestalt hängt am Karma, und das lässt sich vom Menschen mitgestalten. Jeder hat Pflichten, zu denen die Wahrhaftigkeit, die Selbstkontrolle, die Mildtätigkeit gehören. Doch einen allgemein gültigen Kodex gibt es nicht. Die Vorschriften, die verschiedenen Gesellschaftsschichten gemacht werden, müssen nicht unbedingt identisch sein. Und zu der Frage, wie sich die Früchte der Taten realisieren, gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Sicher ist nur, dass sich die Gläubigen durch Opfer in Tempeln und das Einhalten bestimmter Riten religiöse Verdienste verschaffen können, »schlechtes Karma« abbauen helfen. Und verhindern, dass man in der nächsten Wiedergeburt ein Insektendasein oder noch Schlimmeres zu befürchten hat.
Die Theologie des Hinduismus ist nicht von der Philosophie getrennt. Eine historisch-kritische Analyse der Texte gibt es nicht, und für viele Gläubige verbietet es sich, die Offenbarungen zu interpretieren; sie sollen so wörtlich genommen werden, wie sie in uralten Zeiten geschrieben wurden, als ein für alle Mal unveränderlich wahr. Dadurch aber drohen ähnliche Gefahren wie durch die Auffassung des Korans als unantastbares »Siegel des Propheten« – das Überlegenheitsgefühl einer Religion, die leicht in Fundamentalismus ausarten kann. Weil sich der Hinduismus in viele Richtungen deuten lässt, hat er tolerante wie intolerante Strömungen hervorgebracht, Sanftmütiges und Kriegerisches. Weitsichtige Denker wie Vallabha im 15. Jahrhundert predigten den positiven Wandel und ein harmonisches, gleichberechtigtes Leben aller Menschen mit Natur und Kosmos. Gesetzeslehrer wie Manu bestanden andererseits auf der festgelegten Ungleichheit des Menschen, verordneten unter Berufung auf den Hinduismus die Dominanz des Mannes über die Frau, von Herr über Diener, von einer Kaste über die andere – ein System, das die Menschen in verschiedene Gruppen aufspaltet, sie von der Geburt bis zum Tod trennt und der untersten Schicht nicht einmal erlaubt, im gleichen Tempel zu beten, das Wasser aus dem gleichen Brunnen zu trinken wie die Privilegierten.
Ich habe im Indien von heute Vertreter beider Richtungen kennengelernt, die Toleranten und Friedfertigen ebenso wie die intoleranten Scharfmacher und die Rückwärtsgewandten. Manchmal schien mir die eine Seite politisch Oberwasser zu haben, manchmal die andere. Zwei unterschiedliche Charaktere sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Sie bezeichnen sich beide als gläubige Hindus – und waren schon beide einmal Minister, in Neu-Delhi auf dem Sprung ins wichtigste politische Amt Indiens. Ansonsten verbindet sie so gut wie gar nichts.
Shashi Tharoor heißt der eine. Er ist ein Weltbürger, klug, gebildet, liberal, oberste Oberschicht. In London geboren, in Bombay und Kalkutta aufgewachsen, Sohn einer wohlhabenden Verlegerfamilie aus Kerala. Er wurde als Wunderkind gefeiert, weil er schon mit zehn Jahren Kurzgeschichten schrieb; als bester Schüler seines Bundesstaates kam er nach Neu-Delhi, entwickelte sich auch dort zur Nummer eins, brillierte nebenbei als Kricket-Crack. Nach dem Studium an der renommierten Fletcher School of Law and Diplomacy der Tufts University in Massachusetts wollte er zurück in sein Land. Er musste allerdings erleben, wie Indira Gandhi 1976 während des von ihr ausgerufenen Notstands sogar eine seiner Kurzgeschichten wegen »politischer Verfehlungen« auf
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